Quelle: Unbekannt

Von Petra Weber-Obrock

„Es mag seltsam klingen, aber ich bin die einzige, die erzählen kann, wie ich endete“, steht im ersten Satz des Klappentextes von Aris Fioretos‘ Roman „Mary“ (Hanser, 24 Euro). Seine Handlung führt mitten hinein in die Zeit der griechischen Militärdiktatur im Jahr 1973. Die Studentin Mary gerät in die Fänge der Junta, weigert sich, ihren Freund zu verraten und erduldet für ihr Schweigen Gefangenschaft, Kälte sowie Folter. Hinzu kommt, dass Mary schwanger ist und ihr ungeborenes Kind gleichermaßen schützen will.

Der Roman ist eine klar umrissene Studie über das, was Menschen einander antun können und was sie in Extremsituationen zu ertragen imstande sind. In Zeiten, in denen totalitäre Strukturen in manchen Staaten wieder auf dem Vormarsch sind, wirkt er keineswegs gestrig, sondern entwickelt eine beklemmende Aktualität. Aris Fioretos stellte sein in diesem Jahr mit dem Romanpreis des schwedischen Rundfunks ausgezeichnetes Buch nun bei der LesART in der Stadtbücherei vor. Moderiert wurde der Abend von Susanne Lüdtke, die sensibel und mit großer Fachkenntnis auf die Hintergründe und Gestaltungsmerkmale des Textes einging. „Es ist ein hartes Buch, nicht einfach, aber lohnend“, urteilte sie.

Für Aris Fioretos, 1960 als Sohn eines griechischen Vaters und einer österreichischen Mutter in Schweden geboren, ist sein literarisches Schaffen auch immer eine Suche nach Identität. Der promovierte und habilitierte Literaturwissenschaftler lebt heute in Berlin und Stockholm. Mit seinen viel beachteten Romanen „Der letzte Grieche“, „Die halbe Sonne“ und eben „Mary“ ist er auf die Spuren seiner griechischen Wurzeln gegangen.

„Eigentlich sind Sie doch der Idealtyp eines Europäers“, sagte Susanne Lüdtke. „Wir Griechen haben sozusagen das Patent auf Patriotismus“, antwortete er. „Man will dazugehören, aber dennoch anders sein.“ Die Geschichte lotet dieses Spannungsfeld von Innen- und Außenblick auf ein Land und seine Geschichte exemplarisch aus, indem sie die letzten Monate der Militärdiktatur in den Fokus rückt. In Griechenland werde vom Studentenaufstand 1973 als einer Art Gründungsmythos erzählt, in dem die Männer die antiken Helden wiederauferstehen lassen. Neu ist, dass Fioretos den Frauen eine Stimme gibt: „Ihre Geschichte war bisher ausgeschlossen.“ Sogar in den Erzählungen der Zeitzeuginnen, die der Autor zu Recherchezwecken befragt hat, hatten seltsamerweise die Männer die Heldenrolle inne.

Im Roman wird die Protagonistin Mary, die sich beharrlich weigert, über ihren Freund, den Studentenführer Dimos, auszupacken, auf eine menschenleere Insel deportiert. Dort wird sie Teil einer Putzkolonne von sechs Frauen, die ein marodes Gefängnis für Neuankömmlinge, sprich politische Häftlinge, herrichten müssen. Folter und Vergewaltigung gehören zu ihrem Alltag. Es ist die Solidarität dieser aus verschiedenen Schichten und Lebenssituationen stammenden Frauen, die ihnen hilft, ihre Würde zu bewahren und zu überleben. Ihre Bewacher sind Bauernsöhne, die ebenso unbedarft in die Rolle des Folterknechts gestolpert sind, wie die Frauen in die der Opfer.

Im Gespräch mit Susanne Lüdtke wirkt Aris Fioretos freundlich und bescheiden, seine Antworten sind immer sehr durchdacht, auch wenn er manche Fragen ein bisschen weitschweifig und mäandernd beantwortet. Obwohl Gewalt ein Kernthema des Buches ist, verzichtet Fioretos über weite Strecken auf jeglichen Voyeurismus. Dadurch entsteht im Buch eine Atmosphäre von ständiger unterschwelliger Bedrohung. Marys Geschichte spitzt sich immer mehr zu. Dabei verengt sich der Blick auf die Schauplätze von der Beschreibung einer großen Demonstration in Athen über die Insel als Inbegriff der Klaustrophobie hin zur Heldin und ihr ungeborenes Kind.

Zum Schluss wird ihr eine schier unmenschliche Entscheidung abverlangt. Aris Fioretos, der sich auch als Übersetzer Vladimir Nabokovs, Paul Austers und des deutschen Lyrikers Jan Wagner einen Namen machte, wirkt fast wie der Inbegriff des intellektuellen Literaturwissenschaftlers, der „über Texte“ schreibt. Seine eigenen Wortschöpfungen legen in ihrer Sinnlichkeit das Gegenteil nahe. Knapp, messerscharf und präzise schildert er aus der Ich-Perspektive Marys die Geschehnisse und bewahrt dabei einen Blick auf die Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit des Lebens. Der Granatapfel auf dem Buchcover und im Text ist dabei ein Bild für den unzerstörbaren Kern in Marys Innern, der sich auch in dem „Kleinen Astronauten“ manifestiert, der in ihr wächst.