Quelle: Unbekannt

Von Gaby Weiß

Beide sind in Esslingen verankert, beide sind echte Power-Frauen, beide sind ausgesprochen produktiv, und beide machen Kunst in verschiedenen Genres: Angelika Hentschel malt, arbeitet als Objekt- sowie Raumkünstlerin und schreibt sowohl Lyrik als auch Prosa. Anna Breitenbach schreibt Gedichte, kreiert „Poemoebel“ genannte poetische Werke, dreht Filme und bringt als Wortaktivistin ihre Lyrik einfallsreich unters Volk. Die LesART präsentierte nun diese beiden „Doppelbegabungen“ mit ihren poetischen Objekten, Bildern und Texten - musikalisch begleitet vom kubanisch-amerikanischen Jazz-Pianisten Aruán Ortiz. Mit entspanntem Flair und stilvollem Ambiente überzeugte als Veranstaltungsort die unter Denkmalschutz stehende Villa Nagel, die von Clemens und Matthias Kunisch mit viel Verantwortung für historische Bausubstanz sowie Vorgeschichte saniert und behutsam modernisiert wird.

Beide Frauen schreiben oft frühmorgens: Angelika Hentschel notiert ihre „Early-Bird“-Gedanken gleich nach dem Aufwachen, und auch Anna Breitenbach schätzt die „Noch-müde-Zeit mit dem ersten Kaffee“, in der der Verstand noch nicht auf Hochtouren läuft. Beide sind - obwohl ihre Arbeiten filigran und leichtfüßig daherkommen - sorgfältige und akribische Arbeiterinnen. „Und beide sind Augenöffner“, sagte Julia Lutzeyer in ihrer Einführung. „Beide treibt ein freudiges Staunen über die Alltagspracht an.“ Die Künstlerinnen eint - in den präsentierten Texten ebenso wie in den in der Villa Nagel gezeigten Gemälden, Objekten und poetisch aufgeladenen Fundstücken - die Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt, das aufmerksame Beobachten, das genaue Hinsehen sowie eine ausgeprägte Lust am spielerisch-unernsten Entfalten. Auf das Sammeln von Lebensaspekten folgt bei beiden aber eine ebenso sensible wie kraftvolle Verdeutlichung, Verdichtung und Verarbeitung in großer Ernsthaftigkeit.

Angelika Hentschel las erste Fragmente aus ihrem Roman „Fräulein Su“, an dem sie derzeit arbeitet. Fräulein Su ist ein zartes Wesen mit einem hyper-empfindsamen Geist, das nach Antworten sucht, seine Träume in Plastikdosen verpackt und sich nach Ruhe, Klarheit und Sicherheit verzehrt: „Ihr Forschen geht über Sehnsucht, Wahrhaftigkeit und Stolpersteine.“ Die Zuhörer lernen sie frühmorgens kurz nach dem Aufwachen kennen: „Das Paradies hat sie sich abgeschminkt. Es liegt neben ihr am Bett.“ Fräulein Su sinniert über das Leben, die Natur, ihren Alltag, ihre Sorgen und Nöte. Sie wünscht sich Trost. Der freilich ist „in Urlaub gefahren“. Mit feinnervigen Antennen lotet Angelika Hentschel die seelischen Empfindungen ihrer Protagonistin aus, mal sehr konkret, mal als wabernder Gedankenstrom, mal bis ins Surreale verrätselt. Das Publikum ist gefordert, in dieser ungemein dichten Sprache möglichst viele Zwischentöne zu entdecken. Gerne hätte man den Sätzen nachgelauscht, sie noch einmal gehört, um die vielen Schichtungen des Textes zumindest in Ansätzen ausloten zu können.

Anna Breitenbach ist, so Julia Lutzeyer, „eine Meisterin der Beleuchtung“. Die Lyrikerin selbst, die aus ihrem neuen Buch „Haus und Hof, Sachen, Leute“ (Klöpfer & Meyer, 18 Euro) las, vergleicht ein Gedicht mit einer Taschenlampe: „Es wirft ein Licht auf etwas, über das man sonst hinweg guckt. Es nimmt etwas aus der Menge heraus und beleuchtet es.“ Für Anna Breitenbach ist die Welt „eine große runde Fundstelle“. Ob beim Bäcker, beim Blick in die Handtasche oder angesichts einer ungewöhnlichen Adresse - überall findet sie die Rohstoffe für ihre Gedichte. Sie reicht diese Taschenlampe als Aufforderung ans Publikum weiter: Alltägliches in den Fokus nehmen, bedachtsam hinschauen, Licht und Augenmerk darauf richten. Und plötzlich sieht man sie auch, den abgesplitterten Lackrest am Fingernagel, den schwankenden Papierstapel auf dem Schreibtisch, die Lampe, die sich über die Schulter des Lesenden neigt. Wenn Anna Breitenbach Formulierungen auf den Grund geht, Doppeldeutigkeiten entlarvt und die Sprache gegen den Strich bürstet, dann kriegt man den springenden Punkt oft schon beim ersten Hören mit. Mark und Kern dieser Poesie jedoch offenbaren sich erst beim zweiten oder dritten Lesen.

„Architektonische Struktur der Klänge“

Und auch auf die avantgardistischen Kompositionen von Aruán Ortiz muss man sich einlassen wollen: Der 43-Jährige zählt zu den eigenwilligsten Vertretern des neuen Jazz. Er ist Komponist, Bratschist und Pianist und versteht seine Musik als „architektonische Struktur aus Klängen“. Das ist mal eng verwoben, mal solitär stehend, mal bombenfest, dann wieder brüchig und fragil. In sich versunken verbaute er in der Villa Nagel zeitgenössische Klassik, afro-kubanische Rhythmen und experimentellen Jazz improvisierend zu Klangräumen. Da fand sich leicht daher Perlendes ebenso wie harsche Dissonanzen, hell Strahlendes ebenso wie tief Dunkles. Die sich daraus aufbauenden Spannungen löste er - zwischendurch mit dem Fuß klopfend oder einzelne Laute summend - in überblendenden Übergängen auf.