Helene Hegemann findet klare Worte angesichts einer Welt, die immer deutlicher aus den Fugen gerät. Foto: Bulgrin - Bulgrin

Sie war gerade 17 Jahre alt, als sie ihren ersten Roman „Axolotl Roadkill“ geschrieben hat. Seither hat Helene Hegemann als Autorin, Regisseurin und Schauspielerin ihr Talent bewiesen.

EsslingenSie hat als Autorin, Schauspielerin und Regisseurin ihre Vielseitigkeit bewiesen, und viele haben Helene Hegemann als „Wunderkind“ gefeiert, weil sie ihr erstes Drehbuch mit 14 Jahren und ihren ersten Bestseller mit 17 Jahren geschrieben hat. „Axolotl Roadkill“ hieß er, und er wurde von der Kritik zunächst hymnisch gefeiert, um wenig später nach Plagiatsvorwürfen ebenso leidenschaftlich skandalisiert zu werden. Mittlerweile ist Helene Hegemann 26, und sie hat die Höhen und Tiefen des Literaturbetriebs durchlebt und durchlitten. Bei den Esslinger Literaturtagen war die junge Autorin nun mit ihrem dritten Roman „Bungalow“ zu Gast. Und weil die LesART auch auf junges Publikum spekuliert, gastierte man für diesen Abend im Jugend- und Kulturzentrum Komma. Dass sich der Altersdurchschnitt nicht dramatisch von dem anderer LesART-Veranstaltungen unterschied, spricht für die Treue des Stammpublikums – und dafür, dass junge Autoren nicht nur junge Zuhörer ansprechen.

Helene Hegemann erzählt in „Bungalow“ (Hanser-Verlag, 23 Euro) von einem jungen Mädchen, das alles Mögliche (und manchmal noch ein bisschen mehr) tut, um seinen Platz in einer Welt zu finden, die zunehmend apokalyptische Züge annimmt. Charlie heißt sie, und im Berliner Hansa-Viertel, wo die Zwölfjährige mit ihrer Mutter lebt, prallen die sozialen Gegensätze so machtvoll wie nur an wenigen anderen Orten der Hauptstadt aufeinander: In den großen Wohnblöcken, die in den späten 50er-Jahren als Paradebeispiele moderner Stadtplanung und als westliche Antwort auf die Stalin-Allee im Osten entstanden waren, leben Menschen, die wie Charlie und ihre Mutter vom Schicksal nicht geküsst werden. Und dazwischen gibt es eine Handvoll Bungalows, deren Bewohner zur Berliner Upperclass gehören. Als in eines der noblen Häuser ein unkonventionelles junges Paar einzieht, das ganz anders ist als alles, was Charlie bis dahin kannte, wächst in ihr die Sehnsucht, dazuzugehören. Dass sie sich im Grunde auf den ersten Blick in die beiden verliebt hat, wird ihr erst später klar.

Es ist ein trostloses Leben, das Charlie lebt: Ihre Mutter säuft – das Wohlergehen der Tochter (sofern man davon überhaupt reden kann) ist von ihren Launen abhängig. Das bisschen Geld, das die beiden zum Leben haben, geht oft genug für Alkohol drauf. Trotzdem versuchen Mutter und Tochter, irgendwie den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten. Vielleicht fühlt sich Charlie schon deshalb so sehr zu Georg und Maria, den neuen Nachbarn im noblen Bungalow, hingezogen. Denn die beiden leben all das, was Charlie nie gekannt hat und was sie gerade deshalb umso reizvoller findet. Sie sind souverän, unkonventionell, schlau und können sich den Luxus leisten, ihr Leben so zu leben, wie es ihnen passt. Und sie gehen ihren Weg in einer Welt, die zusehends aus den Fugen gerät. Anfangs ist Charlie fasziniert, doch mit der Zeit entwickelt sich daraus eine Liebe, die alle Konventionen sprengt – und die auf ihre Weise zum Tanz auf der Rasierklinge wird.

Charlie, deren Geschichte Helene Hegemann in ihrem neuen Roman erzählt, passt perfekt in den literarischen Kosmos der jungen Autorin. „Verlorenheit zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk“, hat Moderatorin Julia Lutzeyer schon bei der Lektüre der Vorgänger-Romane „Axolotl Roadkill“ und „Jage zwei Tiger“ festgestellt. Dasselbe Motiv nimmt auch in „Bungalow“ breiten Raum ein. Ein Gefühl der Verlorenheit spürt nicht nur die zwölfjährige Protagonistin – viele in ihrem Umfeld leiden an einer Welt, die ihnen Angst macht, weil sich die Zeichen einer drohenden Katastrophe mehr und mehr verdichten. Mittendrin versucht Charlie, Halt bei Georg und Maria zu finden – und irgendwie ihren Weg zu gehen.

Helene Hegemann findet eine harte, bisweilen an die Grenzen gehende Sprache. Doch diese Sprache ist niemals bloß ein Selbstzweck, sondern einer Welt geschuldet, die immer weniger die Sicherheit zu bieten vermag, die viele sich von ihr wünschen würden. Die Autorin unternimmt mit Hilfe ihrer Erzählerin den Versuch, aus der Perspektive einer dystopischen Zukunft unsere Gegenwart in einer verdichteten Weise zu zeigen.

„Zunächst ist die Story da, für die ich dann die richtige Sprache zu finden versuche“, verriet die junge Autorin ihrem Esslinger Publikum. „Ich wollte nicht zu rotzig sein in meiner Sprache.“ Trotzdem erschrickt sie beim Lesen zuweilen über sich selbst: „Das war aber jetzt ganz schön hart.“ So außergewöhnlich wie die Geschichte und die Sprache, die Helene Hegemann findet, sind auch die Figuren. „Ich würde nicht sagen, dass der deutsche Durchschnittsbürger so ist“, meint die Autorin augenzwinkernd. „Aber es kann ja auch Spaß machen, solchen Extremformen im Buch zu begegnen und sich zu fragen, ob man nicht auch ein klein wenig von sich selbst in ihnen wiedererkennt.“