Quelle: Unbekannt

Esslingen - Es gehört viel Mut und noch mehr Überzeugung dazu, sich so zu engagieren, wie Seyran Ates das seit vielen Jahren tut. Sie ist Anwältin, Frauenrechtlerin und eine unermüdliche Streiterin für einen liberalen Islam. Das hat ihr Respekt und Anerkennung eingebracht - von ihren Gegnern wird sie dafür umso unerbittlicher angefeindet. Doch obwohl sie vor Jahren bei einem politisch motivierten Anschlag lebensgefährlich verletzt wurde, kämpft sie weiter. Weil sie überzeugt ist, dass man das Feld nicht den Intoleranten und Hasserfüllten überlassen darf, hat Ates in Berlin die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee gegründet. Davon erzählt sie in ihrem neuen Buch „Selam, Frau Imamin“ (Ullstein-Verlag, 20 Euro), das sie am Sonntag ab 18 Uhr im Alten Rathaus vorstellt. Vor ihrem bereits ausverkauften LesART-Auftritt bat die EZ Seyran Ates zum Interview.

„Selam, Frau Imamin“, heißt Ihr Buch. Das klingt für viele Muslime sehr ungewohnt. Ist Ihnen diese Formulierung schon ganz vertraut?

Ates: Ja. Es fühlt sich großartig an, das sagen zu dürfen, weil es Ausdruck für etwas ist, das mir schon lange am Herzen liegt. Dass eine Frau Imamin sein darf, ist ein wichtiges Zeichen für viele Frauen muslimischen Glaubens. Lange schien das hierzulande undenkbar. Dass wir nun eine Moschee haben, in der Frauen und Männer gemeinsam beten, sehen viele als Befreiung. Anderswo in der Welt ist man da weiter. In China zum Beispiel gibt es schon lange Frauenmoscheen, in denen Frauen Imaminnen sein dürfen. Es war höchste Zeit, dass sich bei uns etwas bewegt.

Seit wann dachten Sie ernsthaft darüber nach, eine Moschee zu gründen, in der Frauen und Männer gleichberechtigt beten?

Ates: Als ich 2006 Mitglied der Islamkonferenz wurde, schien das noch außerhalb jeder Vorstellung. Die Auseinandersetzungen mit den konservativen Kräften auf der Islamkonferenz 2009 haben mich darin bestärkt, dass sich etwas ändern muss. Vor Gott darf das Geschlecht keine Rolle spielen. Wir dürfen den Konservativen nicht die Deutungshoheit über den Islam überlassen.

Wie hat Ihr persönliches Umfeld auf diesen Gedanken reagiert?

Ates: Manche waren zunächst irritiert, weil sie mich als Frauen- und Menschenrechtlerin sahen und fanden, der Schuster solle bei seinen Leisten bleiben. In der religiösen Ecke hat man mich nicht gesehen. Für diejenigen, die mich besser kennen, war dieser Schritt absolut nachvollziehbar. Die Religion darf nicht dazu missbraucht werden, Frauen kleinzuhalten. Ich habe mich als Frau an keinem Ort so diskriminiert gefühlt wie in Moscheen. Indem ich in der Moschee etwas für die Gleichberechtigung der Frauen tue, tue ich etwas für ihre Gleichberechtigung in der Gesellschaft.

Weshalb brauchen wir liberale Moscheen in unserem Land?

Ates: Wir brauchen sie überall. Ich habe den Eindruck, dass viele Muslime ihre eigene Religion gar nicht richtig kennen. Sie wissen nicht, wie tolerant der Islam eigentlich ist. Wenn immer nur die radikalkonservativen Kräfte zu Wort kommen, prägen nur sie das Bild des Islam. Menschen, die ein liberales Verständnis vom Islam haben, brauchen einen Ort, an dem sie sich treffen und gemeinsam beten können. Indem wir eine liberale Moschee gegründet haben, zeigen wir, dass der Islam viele Facetten hat. Jede muss das Recht haben, öffentlich zur Geltung zu kommen. Wer gibt den konservativen Kräften das Recht, zu bestimmen, was der Islam ist?

Erreichen Sie mit Ihrer Moschee nur Gleichgesinnte, oder sprechen Sie auch Andersdenkende an?

Ates: Die weltweiten Reaktionen zeigen, dass wir ganz viele Menschen erreichen. Auch diejenigen, die sich sehr kritisch und oft sogar feindselig äußern, müssen sich mit unseren Ideen auseinandersetzen.

Sie haben sich immer wieder gegen Verschleierung von Frauen ausgesprochen. Die Österreicher haben ein Vollverschleierungsverbot erlassen. Ist das ein Gedanke, mit dem Sie sich anfreunden können?

Ates: Absolut. Ich finde es selbstverständlich, dass Menschen, denen man auf der Straße begegnet, ihr ganzes Gesicht zeigen. Die Freiheit ist ein ganz hohes Gut. Unter dem Schleier gibt es keine Freiheit. Ich kann nicht verstehen, weshalb es in Europa oder in den USA immer noch Menschen gibt, die so etwas gut heißen. Wenn man Frauen aus dem Bild der Öffentlichkeit entfernt, indem man sie zur Verschleierung drängt oder sogar zwingt, ist das zutiefst frauenfeindlich.

Wir Deutschen tun uns manchmal schwer, Grenzen zu setzen. Müssten wir deutlicher sagen, was in unserem Land geht und was nicht?

Ates: Selbstverständlich. Wir müssen lernen, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu unterscheiden. Deutschland hat ein negatives, aber auch ein sehr großes positives Erbe. Unsere Verpflichtung besteht darin, dafür zu sorgen, dass das, was im Nationalsozialismus passiert ist, auf deutschem Boden nie mehr geschehen kann. Dazu gehört, dass wir die Freiheitsrechte, die unser Grundgesetz vorgibt, beherzigen und verteidigen. Wir bekennen uns zu den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution. Wer das nicht anerkennt, der gehört nicht nach Europa. Ich weiß, dass manche das nicht gern hören und Toleranz auch gegenüber denen fordern, die die Intoleranz predigen. Manche Gutmenschen sind rasch dabei, mich in die rechte Ecke zu stellen. Meine Forderungen haben Hand und Fuß, weil ich mich seit Jahren für Freiheit und Toleranz einsetze.

Manches hat sich in den letzten Jahren in die falsche Richtung entwickelt. Haben wir überhaupt noch eine Chance, solche Entwicklungen wieder zurückzudrehen?

Ates: Man hat immer eine Chance, wenn man das möchte. Dazu muss die Politik klare Zeichen setzen und sagen, was in unserem Land geht und was nicht. Und es muss mehr Journalisten geben, die auch das, was falsch läuft, klar benennen und nicht nur die unbestreitbar positiven Aspekte betonen. Es geht schließlich um unser Land.

Was treibt Sie an, immer und immer weiterzumachen?

Ates: Weil Freiheit unverzichtbar ist und weil mir das freie Denken schon immer sehr wichtig war. Ich habe mir den Mund nie verbieten lassen. Das muss für alle gelten. Ich kämpfe für die Rechte der Frauen und sage meine Meinung. Und ich erlaube mir, auch Fehler zu machen und mich zu entschuldigen, wenn ich sie erkannt habe. Wenn man von etwas überzeugt ist, muss man dafür einstehen, auch wenn das bestimmt nicht immer leicht ist.

Das Interview mit Seyran Ates führte Alexander Maier.

Seyran Ates Persönlich

Seyran Ates wurde 1963 in Istanbul geboren und kam als Kind einer türkischen Mutter und eines kurdischen Vaters nach Berlin. „Das Aufwachsen in einer sehr traditionellen Großfamilie hat mich politisch geprägt“, erinnert sie sich. „Insbesondere hat es dazu beigetragen, dass ich sehr früh angefangen habe, gegen die Ungleichbehandlung der Geschlechter zu kämpfen.“ Mit 17 Jahren hat Seyran Ates ihr Elternhaus verlassen, um selbstbestimmt leben zu können. Seither engagiert sie sich für andere Frauen und Mädchen, die ähnliche Unterdrückung erlebt haben wie sie. 1983 begann sie, während ihres Studiums der Rechtswissenschaften in einer Beratungsstelle für Frauen aus der Türkei zu arbeiten. Dort wurde Ates 1984 bei einem politischen Anschlag lebensgefährlich verletzt. Seit 1997 ist sie als Anwältin tätig, in mehreren Büchern hat sie sich für einen liberalen Islam und für die Rechte der Frauen eingesetzt. Von ihren Gegnern wird die streitbare Frauenrechtlerin angefeindet und bedroht, zeitweise musste sie ihre Anwaltskanzlei schließen. Seyran Ates ist gläubige Muslimin und hat mit Gleichgesinnten in Berlin die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee gegründet, in der alle Menschen unabhängig von Geschlecht und sexueller Ausrichtung gemeinsam beten können. Für ihr vielfältiges und unerschrockenes Engagement wurde Seyran Ates immer wieder mit hohen Auszeichnungen bedacht.