Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Die Bilder sind noch sehr präsent: Mitte der 80er-Jahre rief Michael Gorbatschow die Politik der Perestroika aus und läutete damit das Ende einer Sowjetunion alter Prägung ein. Viele hofften damals auf eine Freiheit, die sie nie gekannt hatten, und auf ein besseres Leben. Drei Jahrzehnte später sieht Russland anders aus. Wladimir Putin regiert mit harter Hand, die Hoffnung auf Wohlstand hat sich nur für einige wenige erfüllt, die die Zeit des Umbruchs für ihren Vorteil zu nutzen wussten. Wenn sich Swetlana Alexijewitsch heute in Russland umschaut, spricht sie von einer „Secondhand-Zeit“ - scheinbar ausgedientes Gedankengut kommt zu neuen Ehren. Die Autorin könnte viel dazu sagen, doch sie lässt lieber andere sprechen: Ganz alltägliche Menschen, die ihr Einblick in ihr Denken und Fühlen gaben. Was sie zu sagen hatten, vermittelt Alexijewitsch derart eindrucksvoll, dass sie dafür 2015 mit dem Literatur-Nobelpreis geadelt wurde. Bei der Eröffnung der Esslinger Literaturtage LesART im Schauspielhaus der WLB gab die weißrussische Autorin im angeregten Dialog mit EZ-Chefredakteur Gerd Schneider Einblick in die russische Seele.

Dass Swetlana Alexijewitsch mit „Secondhand-Zeit“ ein außergewöhnliches Buch gelungen ist, war stets unumstritten - Puristen monierten allerdings, dass dieses Werk zu dokumentarisch sei, um höchsten literarischen Ansprüchen zu genügen. Die Autorin spricht von einem „Roman in Stimmen“ - aus unterschiedlichsten Äußerungen entsteht ein facettenreiches Bild vom Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Das klingt nicht hoffnungsfroh, doch gerade für Leser hierzulande, die oft fassungslos gen Osten blicken, ist dieses Werk umso wichtiger, weil es in seiner Vielstimmigkeit den sehr unterschiedlichen Befindlichkeiten in diesem Riesenreich gerecht wird. „Und wie bringen Sie die Leute zum Reden?“, wollte Gerd Schneider wissen. Die Antwort fiel der Autorin leicht: „Ich komme als Mensch zu anderen Menschen und gebe ihnen das Gefühl, dass ich meine Probleme nicht wichtiger nehme als ihre. Und ich habe die gefragt, die sonst nie zu Wort gekommen sind.“

Dass sie ihr Buch „Secondhand-Zeit“ genannt hat, kann sie leicht erklären: „Anfang der 90er-Jahre waren wir alle Romantiker. Wir glaubten ganz sicher, dass jetzt eine neue Zeit beginnen würde. Alle riefen nach Freiheit und dachten, dass alles ein großes Fest werden würde. Und die geistige Elite dachte, dass sie das Volk kennen würde. Doch das Volk hat nur für kurze Zeit zugehört und zum Beispiel all die Bücher, die lange verboten waren, gelesen. Doch irgendwann interessierten sich die Leute nicht mehr dafür. Irgendwann ging’s nur noch ums Geld, und dieses große Land wurde ausgeplündert. Und heute ist es für viele ein Schimpfwort, wenn man jemanden Demokrat nennt. Und die Elite musste erkennen, dass sie das Volk doch nicht so gut kennt. Plötzlich ist vieles von dem, was längst überwunden schien, wieder da. Die alten Ideen aus zweiter Hand.“

Und wie ist das alles zu erklären? „Der Kommunismus hatte einen aberwitzigen Plan - den ‚alten’ Menschen umzumodeln, den alten Adam. Und das ist gelungen ...“, schreibt Alexijewitsch in ihrem Buch. „Es ist vielleicht das Einzige, das gelungen ist. In den etwas über 70 Jahren ist im Laboratorium des Marxismus-Leninismus ein neuer Menschentyp entstanden: der Homo sovieticus.“ Nur wer ihn genau kennt und versteht, wird je begreifen, weshalb vieles in Russland so ist, wie es ist. Die russische Geschichte, die in weiten Teilen von Krieg und Gewalt geprägt war, hat ihre Spuren hinterlassen - im ganzen Land und in jedem Einzelnen. „Ein Leben war nie viel wert“, bringt die Autorin die Sache auf den Punkt.

Keiner will umsonst gelebt haben

Swetlana Alexijewitsch findet es zu kurz gegriffen, wenn im Westen alle nur nach Putin schauen: „Das Problem ist der kleine Putin, der in vielen steckt.“ Der Präsident habe „Worte gefunden, die die Herzen des Volkes erreicht haben“. Er habe seinen Landsleuten versprochen, dass Russland zu alter Stärke zurückfinden werde. Dass nach Ende des Sozialismus eine ganze Zivilisation auf den Müll gewandert sei, hätten viele nicht verwunden. Was das bedeutet, sei klar: „Die Menschen wollen nicht das Gefühl haben, umsonst gelebt zu haben. Wenn der Kühlschrank leer ist, tröstet man sich eben damit, dass unsere Raketen aber 500 Kilometer weit fliegen. So ist der russische Mensch.“

Putin habe „die richtigen Knöpfe gedrückt“. Doch hinter ihm gebe es viele, die in ihren Positionen noch weitaus radikaler seien. Da hätte Gerd Schneider gerne zum Abschluss etwas Optimistisches gehört. Doch Swetlana Alexijewitsch hat Bedenken - nicht nur für Russland: „Man muss sich nichts vormachen - das Leben ist heute kompliziert. Die Welt ist immer häufiger in der Hand von einzelnen Verrückten.“ Den vielleicht wichtigsten Rat blieb die Nobelpreisträgerin am Ende aber doch nicht schuldig: „Wir dürfen niemals aufhören, den Menschen in uns zu behüten.“