Das beste Programm der Spielzeit war der „Verführungs“-Abend - hier eine Szene aus Marco Goeckes „Spectre de la Rose“. Foto: Ballett Stuttgart Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Ein „Annus horribilis“ möchte man die letzte Saison nun wirklich nicht nennen. Aber die 21. und vorletzte Spielzeit von Reid Andersons bislang so glücklicher Intendanz war kein gutes Jahr: unausgewogen in der Programmierung, von langwierigen Tänzerverletzungen geprägt, dann fiel mit „Kafka“ die sehnlichst erwartete Hauptattraktion am Ende aus, viel zu viele Tänzer und beide Hauschoreografen kamen abhanden. Ein bisschen fühlt es sich an, als hätte die Götterdämmerung begonnen. In der ersten Hälfte, also bis zum Februar, gab es nur Repertoire - Crankos „Zähmung“, der Klassiker „Don Quijote“ und Demis Volpis Erfolgsstück „Krabat“ wurden wie gewohnt auf hohem Niveau getanzt, und bei den Solisten war der Generationswechsel in vollem Gange - bis dann fast all die jungen Hoffnungen kündigten. Pablo von Sternenfels etwa debütierte als umwerfender Petruchio, bevor er im Frühsommer überraschend beschloss, dass er ab sofort kein klassischer Tänzer mehr sein will. Constantine Allen zeigte endlich, was für Tricks er als Basilio drauf hat - nun verlässt der elegante, aparte Tänzer die Stuttgarter Kompanie der Liebe wegen, um sich in Kanada einen Job zu suchen, der, so muss man fürchten, weit unter seiner Qualitätsklasse liegt.

Schluss in der Blüte der Karriere

Auch Robert Robinson hängt in der Blüte seiner Karriere den Beruf so einfach an den Nagel. Die merkwürdige Häufung von Abgängen kann man Reid Anderson und seiner bisher so glücklichen Tänzerförderung kaum vorwerfen - vielen jungen Tänzern von heute fehlt genau wie ihren Altersgenossen in anderen Professionen die Beständigkeit. Man wechselt öfters den Arbeitgeber, meint anderswo grünere Weiden zu finden. Die absolute Hingabe an den Tänzerberuf und an eine Kompanie, wie wir es von Marcia Haydée oder Birgit Keil in Erinnerung haben, ist vielleicht bald Nostalgie.

Bis zum Frühjahr fehlte auch der verletzte Jason Reilly, der mit einem Paukenschlag-„Bolero“ auf die Bühne zurückkehrte; auch der große Star Friedemann Vogel war zunächst ein halbes Jahr in der ganzen Welt unterwegs, bevor man ihn bei seiner Heimatkompanie überhaupt zu Gesicht bekam. Das Stuttgarter Ballett kompensierte den verletzungs- oder schwangerschaftsbedingten Ausfall von vier, fünf ersten Solisten und Solistinnen ohne Qualitätseinbußen, aber gegen Ende wurde die Personaldecke dann doch recht dünn. Die alles überstrahlende Elisa Badenes war im Dauereinsatz, ebenso David Moore, der als Gott Apollo in „Tod in Venedig“ einen großen persönlichen Schritt machte. Noch immer gibt es tolle Aufstiegskandidaten wie den dramatisch intensiven Martí Fernández Paixà oder die viel zu wenig eingesetzte Jessica Fyfe. Adhonay da Silva rettete die „Don Quijote“-Premiere mit seiner wahrhaft sensationellen Technik, noch aber steht zu bezweifeln, ob aus ihm wirklich das Stuttgart-typische Komplettpaket eines ausdrucksvollen Tanzschauspielers werden kann, ähnliches gilt für den lange unterschätzten Alexander McGowan.

Auch die beiden jungen Choreografen aus der Kompanie arbeiten weiter an einem wirklich einprägsamen Profil: Sowohl Louis Stiens mit „Qi“ im Schauspielhaus als auch Katarzyna Kozielska mit „Dark Glow“ im Opernhaus vertrauten auf die klassische Basis - er mit einer tanzintensiven Abfolge von abstrakten Auftritten, sie mit einer dunklen Zukunftsvision.

Die beiden einzigen Uraufführungen sahen interessant aus, aber nicht bezwingend. Das beste Programm der Spielzeit war zweifellos der „Verführungs“-Abend mit seiner Ballets-Russes-Thematik: Sidi Larbi Cherkaouis „Faun“ faszinierte ebenso wie Marco Goeckes „Spectre de la Rose“ durch das jeweils ganz eigene Idiom, in sämtlichen Besetzungen erwiesen sich die Stuttgarter Tänzer als perfekte Spezialisten für die Moderne. Auch Jirí Kyliáns „Falling Angels“ bestätigte Reid Anderson erlesene Einkaufspolitik - nur vom Feinsten. Weniger verständlich ist der selektive Umgang des Stuttgarter Balletts mit seiner Vergangenheit - so gedachte man zwar der Bühnenbildnerin Rosalie, die einst ein paar Kurzballette für die Kompanie ausgestattet hat, nicht aber des langjährigen Cranko-Solisten Jan Stripling, der immerhin 13 Jahre hier tanzte.

Erzähler und Bildermagier Volpi

Der eine Hauschoreograf, Demis Volpi, hatte bereits die Kündigung in der Tasche und knallte nach dem Motto „jetzt erst recht“ eine Inszenierung von Brittens „Tod in Venedig“ raus, die sein überragendes Talent als Erzähler und Bildermagier noch einmal herausstellte. Der andere Hauschoreograf, Marco Goecke, reagierte so schockiert auf die Tatsache, dass ihn der zukünftige Ballettchef Tamas Detrich in Stuttgart nicht mehr haben will, dass er schließlich die Uraufführung seines Abendfüllers „Kafka“ absagte.

Der Amtsantritt des Anderson-Nachfolgers in einem Jahr wirft ungute Schatten voraus, Detrich hat schon mal den Zorn der gesamten Tanznation auf sich gezogen. Das kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt fürs Stuttgarter Ballett, denn der stadtinterne „Ableger“ Gauthier Dance wird langsam zum echten Konkurrenten.

Gauthier holt endlich Choreografen ins Theaterhaus, die im Opernhaus noch nicht waren, und schnappt mit Künstlern wie Hofesh Shechter dem großen Bruder die Knüller weg. Sollte auch noch Goecke im Theaterhaus Asyl finden, dann muss sich Detrich ganz gewaltig anstrengen, um die Rolle des Stuttgarter Balletts als Vorreiter der Moderne zu halten. Ob das mit der Noch-Heidelberger Tanzchefin Nanine Linning gelingt, die gerüchteweise hier arbeiten soll? Jedenfalls nicht mit Kenneth MacMillans Historienschinken „Mayerling“, der eigentlich nur mit neuer Ausstattung genießbar wäre. Die Gewichte in der Tanzstadt Stuttgart sind in Bewegung geraten, es kommen spannende Zeiten.

In einer kleinen Serie ziehen wir eine Bilanz der vergangenen Spielzeit an den großen Bühnen der Region.