Szene aus der Stuttgarter „Kameliendame“ mit Alicia Amatriain und Friedemann Vogel Foto: Stuttgarter Ballett - Stuttgarter Ballett

John Neumeiers „Kameliendame“ beim Stuttgarter Ballett fehlt das Zentrum

StuttgartAus Stuttgart hinaus in die Welt: Zwei Handlungsballette hat das Stuttgarter Ballett kreiert, die zu internationalen Klassikern geworden sind, und zwar zu solchen, die wirklich alle tanzen, auch die Kompanien, die älter, ehrwürdiger, größer und berühmter sind. John Crankos „Onegin“ war das erste, nur 13 Jahre später entstand John Neumeiers „Kameliendame“, die im November 1978 eine volle Stunde lang beklatscht wurde. Ihren Artikel hatte sie da noch nicht, „Die Kameliendame“ heißt das Stück in Stuttgart erst seit den 1990er-Jahren, angepasst an Neumeiers Hamburg Ballett.

Marcia Haydée tanzte die Hauptrolle in beiden Werken, Jürgen Rose hat beide ausgestattet: zwei wesentliche Faktoren für den Erfolg. Wo man Roses wunderbare Farbpalette für die Ballkleider und das sparsame, immer wieder durchsichtig werdende Bühnenbild mit jeder „Kameliendame“ bewundert, da findet man auch bis heute die Spuren von Haydées Bewegungsduktus und Interpretationskunst in Marguerite, der kranken und liebenden Kurtisane von Alexandre Dumas, die auch als „La Traviata“ berühmt wurde.

John Neumeiers Erzählkunst zeitigte in den weiteren 40 Jahren seines Schaffens noch einige Höhepunkte, aber selten stimmten Dramaturgie, die eigentliche Choreografie und die äußere Form derart perfekt zusammen. Die drei zentralen Pas de deux in den drei Akten, jeder mit einer inneren Entwicklung, die feine Charakterisierung der Figuren, die Spiegelung der Liebenden in den fiktionalen Gestalten von Manon Lescaut und des Grieux – die „Kameliendame“ ist ein Meisterwerk des Handlungsballetts.

Sorgfalt vor Passion

Zum 40-jährigen Jubiläum war der Meister ein paar Tage persönlich in Stuttgart und nahm ein paar unnötige Änderungen vor (warum etwa muss Vater Duval die ganze Zeit an der Seite sitzen? Warum zieht Manon sich plötzlich aus?). Trotz Neumeiers Coaching blieb von der Wiederaufnahme ein gedämpfter Eindruck, wenn man zurückdenkt, was für gloriose, bewegende Aufführungen wir in Stuttgart schon gesehen haben – nicht nur mit Marcia Haydée und ihrer Generation, sondern in Sternstunden von Sue Jin Kang mit Robert Tewsley oder Marijn Rademaker, mit Yseult Lendvai und Vladimir Malakhov. Noch ging am Dienstag Sorgfalt vor Leidenschaft, das Corps de ballet glänzte in den Bällen, sonnte sich aber kaum im Übermut der Landgesellschaft.

Wo David Moore als lockerer Gaston die Zweideutigkeit seines Reitpeitschen-Solos fein englisch dosiert, da fehlt Ami Morita als Marguerites Freundin noch die charmante Leichtigkeit; aufmerken lässt stattdessen Diana Ionescu als funkelnde Olympia. Roman Novitzky bewahrt als des Grieux die Würde der Theatergestalt, aber Hyo-Jung Kang lässt als Manon Autorität vermissen – eigentlich übt die fiktionale Rokokokokotte mittels ihrer Faszination Macht über Männer und in diesem Fall auch über Marguerite aus. Innig besorgt um die Titelheldin ist nicht nur Alessandro Giaquinto als jugendlicher Verehrer, sondern mit großer Liebe Sonia Santiago als ihre Kammerfrau. Und einer von der Uraufführung ist tatsächlich noch dabei: der frühere Ballettkorrepetitor George Bailey als Helfer des Auktionators, der im stillen Anfangsbild die Reste eines Lebens versteigert. Gleich vier von Baileys Pianistenkollegen sorgten für Chopin vom Feinsten, am allerfeinsten Andrej Jussow; James Tuggle dirigierte das Staatsorchester.

Mit seiner schönen Linie, den hohen Arabesquen und als sanfter, sicherer Partner ist Friedemann Vogel ein beseelter Liebender, jungenhaft verliebt im ersten Akt, stürmisch hin- und hergerissen im letzten Pas de deux zwischen Leidenschaft und Verzweiflung, erst recht in seiner kalten Wut, mit der er beim letzten Ball Marguerite misshandelt.

Demonstratives Leiden

Aber war er nicht besser, als er mit Sue Jin Kang eine Partnerin auf diesem dramatischen Niveau hatte? Denn wo man auf deren ausdrucksvollem Gesicht jede kleine Regung sah, Zweifel, Überraschung oder Angst, da kennt Alicia Amatriain nur die Extreme: Lachen oder Leiden. Eigentlich nur Leiden. Schon im zweiten Akt kann sie sich kein Lächeln mehr abringen, was dem Inhalt regelrecht zuwiderläuft: Gerade hat die Kurtisane ihrem reichen Gönner die Juwelen vor die Füße geworfen und sich der Liebe zugewandt – aber Glück sieht man nicht auf ihrem Gesicht. Wo Neumeier derart zarte, schwebende Schritte choreografiert hat und die Todkranke im Wunder der Liebe aufblühen lässt, zeigt uns diese Interpretin schon hier, wie schlimm alles ausgehen wird.

Nach dem Besuch von Armands Vater, dem nuancierten und würdevollen Jason Reilly, spielt diese Kameliendame ihrem Geliebten nichts vor, sondern leidet so demonstrativ, dass Armand regelrecht herzlos erscheint, weil er das nicht bemerkt. Auch im letzten Akt versucht diese Marguerite erst gar nicht erst, stark zu sein und Würde zu bewahren. Als Haydée die Rolle tanzte, da galt ihr letzter Gedanke vor dem Tod Armand – Alicia Amatriains Marguerite denkt nur an sich selbst. Die große Gefahr ist, dass die jungen Ballerinen, die weder Haydée noch Sue Jin Kang gesehen haben, diesem Beispiel nacheifern.

Weitere Aufführungen am 20., 24. und 26. Januar sowie am 3. und 5. Februar – dann wieder im April.

www.stuttgarter-ballett.de