Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Mit der 621. Aufführung feiert das Stuttgarter Ballett am Freitag das 50-jährige Jubiläum von „Onegin“, John Crankos schönstem Handlungsballett. In Stuttgart läuft die Adaption von Alexander Puschkins Versroman regelmäßig (und stets aufs Beste einstudiert) im Repertoire, das Publikum liebt sie wie einen guten alten Freund, von dem man sich nie zu lange trennen will. Darüber könnte man fast vergessen, was für eine Weltkarriere das Stück im letzten halben Jahrhundert gemacht hat: Fast 40 Kompanien weltweit übernahmen „Onegin“ bisher, darunter praktisch sämtliche Ballettweltstädte wie London, Paris, Moskau mit dem Bolschoi, New York mit dem American Ballet Theatre oder Mailand in der Scala, die Nationalballette von Kanada über China bis Australien, in Deutschland die Kompanien in München, Hamburg und Berlin.

Änderungen nach der Premiere

Ein Ballett aus den Württembergischen Staatstheatern fand damit eine weitere Verbreitung als die meisten Opern, die in den 60er Jahren uraufgeführt wurden: „Onegin“ ist heute ein moderner Klassiker.

Die Uraufführung fand eigentlich bereits am 13. April 1965 statt, damals tanzten Marcia Haydée und Ray Barra, Ana Cardus und Egon Madsen sowie Kenneth Barlow die fünf Hauptrollen. Gefeiert wird in Reid Andersons Kompanie aber auf den Tag genau der 50. Geburtstag der überarbeiteten Neufassung, die dann 1967 Premiere hatte, nun mit Heinz Clauss als Onegin.

Bereits kurz nach der Premiere hatte Cranko begonnen, alles Mögliche an seinem Werk wieder zu ändern, vor allem strich er einen Prolog mit Onegins sterbendem Erbonkel und die Kinder Tatjanas. Auch die Tänze fürs Corps de ballet wurden verändert; wenn die russische Folklore manchmal ein wenig griechisch aussieht, so lag das daran, dass Cranko zuvor im Land der Hellenen Urlaub gemacht hatte.

Jahre zuvor, in seiner Londoner Zeit, hatte John Cranko die Tänze für eine Operninszenierung von Peter Tschaikowskys „Eugen Onegin“ choreografiert, dabei war er auf die Idee gekommen, ein ganzes Ballett aus dem Stoff zu machen. Das Royal Opera House lehnte damals ab, sein Stuttgarter Intendant Walter Erich Schäfer war später offen dafür, widersprach aber dem Ansinnen, Tschaikowskys Opernmusik zu verwenden. Kurt-Heinz Stolze, damals Ballettdirigent am Staatstheater, stellte aus Tschaikowsky-Musik eine Partitur zusammen.

Er verwendete hauptsächlich Klavierstücke, aber auch symphonische Dichtungen und Melodien aus der Oper „Die Pantöffelchen der Zarin“. Crankos Ausstatter Jürgen Rose schuf einen hellen Birkengarten und ein prachtvolles St. Petersburg, Tatjanas braunes Spitzenkleid macht bis heute Furore. Weil er nicht überall sein kann, wo „Onegin“ inszeniert wird, gibt es in Kanada, Mailand, Berlin oder Korea vier weitere Ausstattungen, deren unsensible Farbgebung manchmal erschrecken kann. Was war 1965 so besonders an „Onegin“? Cranko schuf eines der ersten echten Literaturballette, er fragte nach der Psychologie seiner Figuren. Damalige Uraufführungen wählten meist immer noch mythologische Stoffe wie „Undine“ oder „Sylvia“.

Dramatische Bewegungssprache

Der Struktur nach orientiert sich Cranko fest an der Dramaturgie von Tschaikowskys Oper, oft sitzen getanzte Solos an Stellen, wo dort Arien sind. Rein choreografisch aber verzichtet er fast völlig auf das Abwechseln zwischen erzählender Pantomime und getanzten Einlagen, alles ist miteinander verwoben in eine erzählende, dramatische Bewegungssprache. Im Zentrum steht, wie in der Oper, die Briefszene, die Cranko zu einem Pas de deux macht: Wie ein wunderbarer Traum tritt Onegin durch den Spiegel in Tatjanas Zimmer und umwirbt sie als romantisch-dämonischer Liebhaber.

Die Tänzer müssen in „Onegin“ nicht nur auf ihre schöne Linie achten, sondern vor allem gute Schauspieler sein - was Tatjana und Onegin zu heißbegehrtesten Rollen im internationalen Ballett macht. Viele große Tänzer haben mit diesem Ballett Abschied von der Bühne genommen, als eine Art Krönung ihrer Karriere. Gerade für die Titelfigur gibt es so viele Möglichkeiten der Charakterisierung, und wir haben in Stuttgart schon fast alle gesehen: kühl, dandyhaft, herablassend oder dunkel, zerrissen und in den Zweifeln eines Lord Byron oder Charles Baudelaire versunken. Nobel muss der Tänzer seine Linien ziehen und ein exzellenter Partner sein, es ist eine der anspruchsvollsten Partien im Repertoire. 1969 brachte die unbekannte kleine Kompanie aus dem Ballett-Exotenland Germany ihren „Onegin“ an die New Yorker Metropolitan Opera und von heute auf morgen wurde das Stuttgarter Ballettwunder geboren. Nicht erst das Schlussbild der entsetzten Tatjana, die die Liebe ihres Lebens wegschickt und machtlosauf der Bühne steht, machte Marcia Haydée damals zum Weltstar. Zum ersten Mal stand keine Verführerin, keine Amazone im Mittelpunkt: kein Klischee, sondern eine echte Frau. „Onegin“ geht nahe, weil Cranko das Ballett so viel näher zu den Menschen geholt hat.

Die Vorstellung zum 50. Jubiläum von „Onegin“ findet heute, 19.30 Uhr, im Opernhaus statt. Marcia Haydée spielt dann zum ersten Mal Tatjanas Amme. Weitere Aufführungen: morgen sowie 3. und 5. November. Morgen um 16 Uhr beginnt im Opernhaus ein Ballettgespräch mit Jürgen Rose.