Der Regisseur Kirill Serebrennikov ist von der russischen Justiz unter Hausarrest gestellt worden - nach absurden Vorwürfen. Foto: A.T. Schaefer Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Eine beklemmende Erinnerung an Zeiten der Unfreiheit geht von diesem Fall aus. Der Dirigent Georg Fritzsch, in der DDR aufgewachsen, fand dafür treffende und persönlich bewegte Worte: „Was kann man öffentlich sagen, ohne dass es dem Betroffenen schadet? Die Frage erzeugt ein Gefühl, das ich seit fast 30 Jahren nicht mehr gehabt habe.“ Der „Betroffene“ ist der russische Regisseur Kirill Serebrennikov, der nach seiner fulminant und brisanten Stuttgarter „Salome“ nun auch Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ inszenieren sollte. Fritzsch dirigiert die Premiere der Märchenoper am 22. Oktober im Stuttgarter Opernhaus - eine Premiere ohne Regisseur. Wie mehrfach berichtet steht Serebrennikov seit 23. August zunächst bis 19. Oktober in Moskau unter Hausarrest, die Behörden haben ihn mit einem Kommunikationsverbot belegt. Eine szenische Probenarbeit in Stuttgart unter Mitwirkung Serebrennikovs ist unter diesen Umständen ausgeschlossen. Lediglich mit seinen Eltern darf er telefonieren, direkten Kontakt hat er nur mit seinem Anwalt. Die russische Justiz wirft dem Theatermann Veruntreuung von Staatsgeldern - umgerechnet eine Million Euro - vor: eine Anschuldigung, die von russischen wie ausländischen Beobachtern als völlig absurd gewertet wird.

Deutliche Worte

In einer Pressekonferenz gaben der Stuttgarter Opernintendant Jossi Wieler und weitere Vertreter des Hauses gestern bekannt, wie „Hänsel und Gretel“ nun trotzdem über die Bühne gehen soll. Und bei aller Vorsicht sprachen die Opernleute auf der von regem Medieninteresse begleiteten Konferenz deutlich aus, was zu sagen ist: Serebrennikov, der im Dezember den Europäischen Theaterpreis erhalten soll, sei ein „großer Künstler, auf den Russland eigentlich stolz sein müsste“, erklärte Wieler.

Chefdramaturg Sergio Morabito stellte klar, dass an den Vorwürfen gegen den Regisseur absolut nichts dran ist, denn: „Das Projekt ,Platforma‘, für das er die staatlichen Zuschüsse bekommen hat, wurde erfolgreich realisiert.“ Tatsächlich sei das Vorgehen der Behörden eine weitere Eskalation in der Behinderung der Arbeit eines kritischen Künstlers. 2013 konnte Serebrennikov seinen „Tschaikowsky“-Film, der auch die Homosexualität des Komponisten thematisieren sollte, wegen gestrichener Fördermittel nicht fertigstellen. Im Juli 2017 wurde die Uraufführung seines Nurejew-Balletts am Moskauer Bolschoi-Theater abgesagt. Und dem von Serebrennikov geleiteten Gogol-Center, einer Avantgarde-Bühne in Moskau mit sehr jungem Stammpublikum, wurden 2013 die öffentlichen Zuschüsse auf ein Minimum gekürzt.

An der Stuttgarter Oper macht man sich wenig Hoffnungen, dass Serebrennikov den Mühlen einer vom Instrument der Wahrheitsfindung zum Instrument der Einschüchterung pervertierten Justiz entkommt. Morabito nennt eine Statistik: „Verfahren vor russischen Gerichten enden in 99,64 Prozent mit einem Schuldspruch.“ Gleichwohl setzt man an der Oper auf das Warten auf die Freiheit: Serebrennikov, so Wieler, soll seine Inszenierung zu einem späteren Zeitpunkt selbst fertigstellen.

Was kommt dann am 22. Oktober auf die Bühne? Jedenfalls keine Rekonstruktion von Serebrennikovs Inszenierung anhand bereits vorliegender Konzepte, denn niemand könne und wolle sich anmaßen, aus dem bisherigen Material die Produktion zu Ende zu bringen, sagte Wieler. Das wolle man - aus Respekt und als Bekenntnis zur Freiheit - dem Regisseur selbst vorbehalten. Auch das Bühnenbild und die Kostüme, die Serebrennikov selbst entworfen hat, werden nicht verwendet. Wohl aber ein Film, der im März und April dieses Jahres von Serebrennikov, seinem Video-Mitarbeiter Ilya Shagalov und dem Kameramann Denis Klebleev in Ruanda und Stuttgart gedreht wurde. Die Filmhandlung spiegelt das Hänsel-und-Gretel-Märchen in der Geschichte zweier ruandischer Kinder, die nicht in den Wald, sondern in eine afrikanische Großstadt geraten und von dort nach Stuttgart kommen. Live-Oper und Film, so Serebrennikovs Idee, sollten in seiner Inszenierung konfrontiert werden. Nun bleibt nur der erst im Rohschnitt fertiggestellte Film, der in ausgewählten, vom Regisseur autorisierten Passagen das Gerüst der Stuttgarter Aufführung bilden soll. Zusammen mit einem zweiten Film, einem Dokumentarstreifen des SWR über das Projekt, erklärt Produktionsdramaturgin Ann-Christine Mecke. „Wir wollen an diesem Abend nicht nur das Märchen, sondern auch über unseren Erzähler erzählen, der bei seiner Erzählung unterbrochen wurde.“ Wie das genau aussehen soll, werde bis zur Premiere kollektiv erarbeitet.

Die Premiere von „Hänsel und Gretel“ beginnt am 22. Oktober um 18 Uhr im Stuttgarter Opernhaus. Die nächsten Vorstellungen: 26. Oktober, 4. November, 2., 13., 16. und 26. Dezember sowie 7. und 14. Januar.