Überlastet: der Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, hier bei einer Veranstaltung des Deutschen Chorfests 2016. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Alle wollen rein, keiner macht den Miesepeter. Wenn heute Abend die Elbphilharmonie in Hamburg eröffnet wird, werden Jubelarien erschallen: über die Markanz des vom Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron entworfenen Baus, über den perfekten Raumklang des japanischen Akustik-Stars Yasuhisa Toyota. Nebst geladenen Gästen werden 1000 Glückliche, die unter 200 000 Interessenten eine Freikarte erlosten, die 2100 Plätze des großen Saals füllen. Alle weiteren Konzerte in diesem Jahr sind ausverkauft.

War da was?

War da was? Verzögerung der Fertigstellung um satte sechs Jahre? Kostenexplosion für die öffentliche Hand von 77 Millionen Euro auf mehr als das Zehnfache? „Elphi“ haben die Hamburger ihr Musenhaus-Monument liebevoll genannt. Kling partout nicht mehr nach Protest. Und sie ist fraglos zum derzeit berühmtesten Neubau der Welt avanciert, die Elphi. Die Moral von der Geschicht’: Millionen oder Abermillionen - ganz egal? Zumindest scheint eines klar: Wenn die Leuchttürme einmal stehen, sonnen sich alle in ihrem Licht.

Im relativ wohlhabenden Stuttgart, dem kürzlich wieder das beste Kulturangebot deutscher Großstädte bescheinigt wurde, leuchtet es diesbezüglich eher trüb. Auch wenn es gut klingt - mit drei großen Sinfonieorchestern samt zahlreichen weiteren sang- und klangvollen Ensembles. Sie alle sowie gastierende Künstler und Klangkörper kommen sich in der vor 60 Jahre eröffneten Liederhalle in die Quere: bei Proben- und Konzertterminen, bei der Koordination mit anderen Veranstaltungen. Zwar bestreitet niemand die akustische Qualität des großen Beethovensaals, aber er ist an 324 Tagen im Jahr belegt. Angesichts der Sommerpause sind die Raum-Ressourcen restlos ausgereizt.

Das Thema ist altbekannt, vor gut fünf Jahren träumte der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) intensiv von einem neuen, zusätzlichen Konzertgebäude, einer Schlossgarten-Philharmonie auf dem S-21-Gelände hinter dem Hauptbahnhof. Doch inzwischen ist es still geworden um die wohlklingenden Blütenträume von einst. Auch wenn Schusters Nachfolger Fritz Kuhn (Grüne) versichert: „Ich halte ein neues Konzerthaus für Stuttgart für richtig und notwendig.“ Aber er verweist auf andere Kulturprojekte - die Sanierung der Wagenhallen und der Villa Berg, den Neubau der John-Cranko-Schule und natürlich die Opernhaus-Sanierung -, die „bereits in der Umsetzung oder Planung“ sind. Während ein Konzerthaus vorerst nur auf dem Wunschzettel steht. Wann es kommt, „lässt sich heute noch nicht beantworten“, sagt der OB. Wenn es kommt, möchte er es wie sein Vorgänger auf dem S-21-Areal sehen. Auch deshalb fordert er eine fristgerechte Fertigstellung des Bahnhofsprojekts im Jahr 2021.

So lange will einer, der es wissen muss, nicht warten: Für Michael Russ, mit seiner SKS seit langen Jahrzehnten der wichtigste private Konzertveranstalter in Stuttgart, hat ein Neubau oberste Dringlichkeit. „Die Zahl der Konzerte ist enorm gestiegen“, sagt Russ. Und die an sich erfreuliche Tatsache, dass der SWR als Sitz seines fusionierten Symphonieorchesters Stuttgart gewählt hat, hat für den Konzertveranstalter mit seinen vier Reihen in der Liederhalle die weniger erfreuliche Folge gravierender Termin-Engpässe: „Die gesteigerten Probenaktivitäten des SWR spüren wir deutlich.“ Ein Auftritt von Star-Pianist Lang Lang musste deshalb bereits verlegt werden.

Auch Johannes Bultmann, der Intendant des SWR Symphonieorchesters, bezeichnet den Beethovensaal als „Nadelöhr“. Ähnlich wie in München sei die Situation hochproblematisch - nur baut München jetzt ein zweites Konzerthaus, das in Stuttgart, so Bultmann, „ganz klar fehlt“.

Russ plädiert daher für eine schnelle Lösung: einen Bau, der auch als Interimsspielstätte für die Oper dienen könnte, etwa auf dem Gelände des Katharinenstifts neben dem Staatstheater („Warum muss ausgerechnet dort ein Gymnasium sein?“). Allerdings stimmt Russ regelmäßig auch ins Lamento über das schrumpfende Klassik-Publikum ein. Braucht es dann tatsächlich ein neues Konzerthaus? Gerade deshalb, sagt der Veranstalter. Zum einen trübe es die Stimmung, wenn sich ein kleiner werdendes Abo-Publikum im großen Beethovensaal verliert. Zum anderen sei „der Sättigungsgrad bei Klassik zwar weitgehend erreicht, bei Pop aber noch lange nicht“. Für einen Neubau schwebt ihm eine Saalgröße mit 1500 Plätzen vor, die eine Lücke im Raumangebot schließen würde.

„Nähe zum Orchestergeschehen“

Ähnlich sieht es Bultmann, der allerdings einen reinen Klassik-Bau favorisieren würde. Ein springender Punkt sind für ihn „durch neue mediale Techniken veränderte Seh- und Hörgewohnheiten“: An die „Hautnaherlebnisse“, wie sie digitale audiovisuelle Medien bieten, komme eine Live-Aufführung nur heran, wenn die Konzertraum-Architektur eine „unmittelbare Nähe zum Orchestergeschehen“ schaffe. Und davon, findet auch Michael Stille, der Intendant der Stuttgarter Philharmoniker, kann auf den hinteren Plätzen der guten alten Liederhalle nicht die Rede sein.

Kurzum: Wenn Stuttgart als Musikstadt nicht nur klingen, sondern leuchten will, muss die Stadt den Weg zu einem neuen Konzerthaus finden - ohne hanseatische Großmannsucht, vor allem aber ohne schwäbische Kleinkariertheit.