Zwar gealtert, aber nicht aus der Zeit gefallen: Udo Lindenbergs Botschaften sind heute aktueller denn je. Foto: Lichtgut / Ferdinando Iannone - Lichtgut / Ferdinando Iannone

Udo Lindenberg, 73, gastiert gleich zweimal in der Stuttgarter Schleyerhalle und bietet dem Publikum Balladen, ehrlichen Rock und heiße Botschaften.

StuttgartUdo Lindenberg zählt 73 Lebensjahre, er ist gealtert, aber kein bisschen alt. Und schon gar nicht aus der Zeit gefallen. Er spricht trotz seines Siebzigerjahre-Coolness-Slangs die Sprache der Jugend. Von ihm eine Scheibe abschneiden könnten sich Politiker, die nicht wissen, wie mit Klimaaktivistin Greta Thunberg und Co. umgehen. Von ihm könnten sie lernen, wie man Klartext redet. Kurz vor Ende des regulären Sets intoniert er „Wir ziehen in den Frieden“ und lässt dazu in der nahezu ausverkauften Schleyer-Halle einfach Artikel 3 und 1 Grundgesetz auf die riesige LED-Wand werfen und von zwei Kindern nachsprechen. So einfach sehen Lösungen im Angesicht einer bereits rot glühenden Sonne aus. So einfach werden wohlfeile Allgemeinplätze unserer Regierungen entlarvt.

Schon 1981 sang Lindenberg über die Sinnlosigkeit von Kriegen. „Wozu sind Kriege da?“ fragt er knapp 13 000 Fans früh in seinem Konzert und gibt die Antwort gleich selbst: Die Menschheit müsse die Kriege beenden, bevor die Kriege die Menschheit beendeten. Mehr denn je präsentiert sich Lindenberg, ähnlich wie Bono von U2, als Mahner und Warner, als humanes Gewissen. Er ist der König der Betroffenheit. Ein Junge aus seinem „Kids-on-Stage“-Chor begleitet ihn, es ist einer von mehreren bewegenden Momenten an diesem Abend. Es braucht, das zeigt sich hier, nicht immer das ganz große Bühnenspektakel. Die leisen Interpretationen, die in die Seele treffenden Balladen sind manchmal die intensiveren.

Doch in der Stuttgarter Arena überwiegt der laute, kaleidoskopische, überkandidelte, aber ungemein kurzweilige Musikzirkus. Zweidreiviertel Stunden lang, ohne Pause, tanzen Lindenberg und sein vielköpfiges, eingespieltes Panikorchester auf der Spitze eines Vulkans, der brodelt und eruptiert, der wild Balladen und ehrlichen Rock hinausschleudert und einen Lavastrom heißer Botschaften ergießt. Zum Beispiel diese: Drogen und Alkohol machen einen kaputt. Anschließend zelebriert der Erleuchtungstrinker sein therapeutisches Selbstkasteiungsstück „Lady Whisky“ von 1978.

Das Gastspiel ist allerdings mehr eine süchtig machende, operettenhafte Karnevals-Revue denn ein klassisches Konzert. Alles ist inszeniert und choreografiert. Es donnert und knallt, speiendes Feuer trifft auf aufsteigenden Nebel, Kostüme konkurrieren mit Maskeraden, Kinderchöre und Stelzenfrauen mit Tänzern und Artisten. Nonnen in Strapsen treten Seit an Seit auf mit sich küssenden Bischöfen. Trump und Putin duellieren sich mit Boxhandschuhen im Ring („Straßenfieber“), umringt von einer Horde wilder Wrestlerinnen. Flamingos wiegen sich im Lou-Reed-Rhythmus („König von Scheißegalien“), und engelsgleiche Streicherinnen schweben mit weißen Cellos unter der Hallendecke.

Es ist ein Feuerwerk an Unterhaltung auf der Bühne, ein Sturm an Bildern auf der LED-Wand, eine Überflutung an visuellen Reizen im Gehirn. Dass die Musik manches Mal eine untergeordnete Rolle spielt, versteht sich von selbst. Das Publikum feiert zusammen mit Gaststar Otto Waalkes eine gigantische Party, in die Raketen-Lindi mit seiner „Panic One“ aus dem Weltall stürzend hineinkatapultiert wird und dessen „Odyssee“ am Ende im tosenden Meer endet. Vieles hat er ähnlich schon 2016 und 2017 gezeigt. Lindenberg ist eben zuverlässig und frei von Überraschungen. Mehr als überraschend ist indes weiterhin seine Fitness. Seine Beinarbeit wirkt noch immer so behände wie das Lassoschwingen mit dem Mikrofon. Hinknien und Aufstehen geht ebenfalls noch problemlos und auch stimmlich gibt es kaum was auszusetzen. Nur die ganz schwierigen Passagen seiner Nuschel-Sause überlässt die Rocklegende seinen famosen Sängerinnen Nathalie Dorra und Ina Bredehorn.

Zum „Woddy Woddy Wodka“-Opening steigen ein Dutzend Udo-Doubles die Gangway hinunter bis das Original erscheint, dann folgen die Knaller „Honky Tonky Show“ und „Mein Ding“. Lindenberg braucht nur wenige Minuten, um voll in den Panik-Modus umzuschalten. Er hat sichtlich Spaß mit den Schwaben, den „Sizilianern Deutschlands“, und natürlich feuert er am Ende seine allergrößten Hits ab: „Stärker als die Zeit“, „Hinterm Horizont“ vor dem überdimensionalen Brandenburger Tor, die Klassiker „Sonderzug nach Pankow“, „Andrea Doria“ und „Reeperbahn“, das die Arena in ein tanzendes Tollhaus verwandelt. Das Bühnenbild ist stets überwältigend wie beim Halleluja-Geläut „Du heißt jetzt Jeremias“ mit Kirchenfenstern in Cinemascope und Kathedralenlicht. Selbst die Lichtgestalt Lindenberg steht in dem ganzen Gewusel manchmal im schattigen Abseits. Doch immer wieder taucht der andere Udo auf. Der Nachdenkliche. Der Zurückgenommene. In den Balladen „Durch die schweren Zeiten“, „Ich träumte oft davon, ein Segelboot zu klauen“ oder „Sternenreise“ entflieht er regelrecht dem Budenzauber. Ganz allein vorne auf dem ins Publikum führenden Bühnensteg platziert er teilweise seine Botschaften, die seine sonstige Nonchalance kontrastieren. Wie mit dem Song „Ratten“, dieser Öko-Anklage von 1982. Der Sender Panik TV News strahlt verstörende Bilder von Waldrodungen, Verkehrsinfarkten oder Meeresvermüllungen aus, die wie Zeichen an der Wand sind. „Greta sagt, wir brauchen Panik!“, betont der bekennende Friday-for-Future-Fan Lindenberg. „ Keine Zeit für Geduld.“

Wie im Flug vergeht die fulminante Theatershow. Am Ende reibt man sich die Augen, soviel Flimmern und Flackern hat es gegeben, soviel Staunen und Spektakel, soviel eingedeutschtes AC/DC-Cover und sonstigen prächtigen Rumpel-Rock. Lindenberg feiert das Leben, sein Leben, das schon mehrmals fast erloschen wäre, und vergisst nicht, vielen Rock’n’Roll-Toten wie Lemmy oder Amy Winehouse zu gedenken. In Erinnerung an diese Vorgänger ist das Hier und Jetzt zusammen mit seiner Panik-Familie sein ganz persönliches „Eldorado“. Am Ende eines wahnwitzigen Grenzgangs wird es melancholisch: „Goodbye Sailor“ heißt es, mit Meer, Leuchtturm, Möwen und Akkordeon. Udos Abgang ist dann genauso grandios inszeniert wie sein Einzug: mit Blitz und Donner, mit sturmgepeitschten Meereswellen, bis die giftgrünen Socken endgültig von der Dunkelheit verschluckt sind. Er müsse weiter, hat er zuvor gesagt, sein Herz bleibe aber hier.

Udo Lindenberg hat alles: Geld, Ruhm, Eierlikör, Ehre. Was ihm zu wünschen bleibt: Unsterblichkeit! Oder wenigstens die 100 zu knacken. „Eines Tages“, sagt Udo, „müssen wir alle sterben. An allen anderen Tagen nicht.“