Gefangene statischer Bewegungs- und Sprechmuster: Szene aus „Fahrenheit 451“. Foto: Björn Klein Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart - „Demokratien sterben heute kaum noch durch gewalttätige Systemveränderungen“, schreibt Georg Diez in seiner aktuellen Spiegel-Online-Kolumne: „Sie sterben schleichend und durch die Aushöhlung von Regeln und Normen von innen - und im Zweifelsfall durch Wahlen.“ Tendenzen, die nicht nur in den USA zu beobachten sind, wo die Demokratie durch Trumps Rassismus und Nationalismus gefährdet wird. Auch in Deutschland sei in der sogenannten Flüchtlingskrise der latente rassistisch-nationalistische Diskurs „mit unheimlicher Wucht“ aufgebrochen und entlade sich jetzt in „autoritären Tendenzen oder der Anbiederung an die Rechten“.

Nicht nur deshalb ist Ray Bradburys Roman „Fahrenheit 451“ - veröffentlicht 1953 und Klassiker der dystopischen Literatur - hochaktuell: Die darin beschriebene Diktatur hat sich das Volk selbst geschaffen, es hat Stück für Stück alle Privilegien der Demokratie freiwillig aufgegeben. Das Ergebnis: eine hochtechnisierte, geistlose, denunziatorische und vor allem gewalttätige Gesellschaft, die auf Anpassung und Mainstream setzt. Man lässt sich von einem stumpfsinnigen, immer gleichen Fernseh-, Informations- und Musikprogramm visuell und auditiv einlullen, um sich bloß keine eigenen Gedanken machen zu müssen. Bildung, Wissen, Literatur, Kunst, Philosophie - alles ausgelöscht. Der Besitz von Büchern ist verboten. Wer sie hat, läuft Gefahr, Haus und Leben zu verlieren. Dann kommen die staatlichen Feuermänner und setzen alles in Brand.

Ungeheuer öder Alltag

„Fahrenheit 451“ ist ein dialogreicher, fasslicher Roman. Und Bradbury hat mit seinem Protagonisten, dem Aussteiger Montag, einen bühnenreifen, sich entwickelnden Charakter geschaffen, der zünden kann (wie es Oskar Werner in der berühmten Truffaut-Verfilmung vormachte). Gut also, dass sich die Ludwigsburger Akademie für Darstellende Künste Baden-Württemberg in ihrem Kooperationsprojekt mit dem Staatsschauspiel Stuttgart gerade diesen Stoff ausgesucht hat - von dem man freilich im Programmheft nicht erfährt, wer ihn für die Bühne eingerichtet hat. Die Dramaturgen Fabian Schmidtlein und Maximilian Wahnelt?

Zunächst zeigt sich der Abend in der Staatstheater-Spielstätte „Nord“ ideenreich in seinem Bemühen, den ungeheuer öden Alltag dieser Gesellschaft zu zeigen. Grau in Grau das Bühnenbild von Johanna Stenzel, das den Blick auf eine Hauswand mit drei großen Fenstern richtet. Die Blumenkästen mit akkurat gereihten Kunsttulpen bieten die einzigen Farbtupfer. Hinter den Fenstern sieht man ein stumpfsinnig vor sich hin blickendes Ehepaar, davor unter Regenschirmen zwei ebenso verharrende Menschen, die ins Wohnzimmer der anderen hineinstarren.

Durch Kopfhörer, die dem Publikum ausgegeben wurden, schallt der swingende Song „Into each life some rain must fall“ - klar, das soll den Zuschauern die mediale Überzuckerung dieser Menschen deutlich machen, die dank solcher Berieselung jedes Denken einstellen. Später hört man über Kopfhörer auch immer wieder chorisch-monoton gesprochene Texte, und dann auch den Song „Bright eyes“ von Simon und Garfunkel, den das Darsteller-Quartett auf der Bühne - die durch Drehung jetzt ein pink-lila-orange ausgestattetes stylisches Wohnzimmer preisgibt - synchron mitsingt. Die vier Menschen auf der Bühne - gespielt von Lea Beie, Laura Eichten, Jonas Grundner-Culemann und Dominik Weber - unterscheiden sich kaum. Alle blass, weißblond, in weiße Kleidung gesteckt (Kostüme: Clara Nothdurft). Jung-Regisseur Wilke Weermann lässt sie sich wie ferngesteuert bewegen. Ihre Sprache ist roboterhaft: monoton, unemotional, mit falschen Betonungen. Wird miteinander gesprochen, steht man auf Distanz, merkwürdigen Körperverdrehungen frönend, selbst beim Kartenspiel. Viel Text kommt aus dem Off: Chorisch und monoton gelesene Prosapassagen aus dem Roman.

Ins Grübeln geraten

So weit so gut, denkt man ungeduldig. Aber warum bleibt auch der Feuermann Montag, der wegen des Beinahe-Suizids seiner Frau, dem gewaltsamen Tod einer Bücherleserin und der Begegnung mit einem nachdenklichen Teenager ins existenzielle Grübeln geraten ist, konsequent in diesen Bewegungs- und Sprechmustern gefangen? Seine innere Wandlung ist weder sicht- noch hörbar, und selbst, als er seinen Kollegen mit dem Brandwerfer tötet und dann in die Wälder zu Dissidenten flieht, bleibt er ein tödlich blasser Roboter. Überhaupt: Diese ausdrucklose Zeitlupen-Roboterei über zwei Stunden, die das Ensemble freilich bewundernswert diszipliniert durchhält: Beängstigend ist das bald nicht mehr. Sondern vielmehr nur noch langweilig.