Nur in der Fantasie glücklich: Irische Schwanenmädchen vor einem See aus Plastikfolie in Michael Keegan-Dolans „Swan Lake“. Foto: Teac Damsa Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Bei welchem anderen Tanzfestival sieht man noch den guten alten Stepptanz unter all den avantgardistischen Performances? Die reine Virtuosität ist nicht mehr erwünscht in modernen Zeiten, Michelle Dorrance aus New York aber verpackt das Klicketi-Klack völlig neu, betanzt mit ihrer Kompanie kleine Holzpodien, die elektronisch auf verschiedene Klänge gestimmt sind, arbeitet raffiniert mit elektronischen Loops - und baut doch mit all ihrer atemberaubenden Kunstfertigkeit auf dem rasanten Kontakt zwischen Schuhen und Boden auf, die einst schon Fred Astaire oder Savion Glover zu Idolen machte. Von der Eleganz des Showbiz kehren Dorrance und ihre coole Truppe zum härteren, rauen Ton der Straße zurück, wo der Stepptanz einst als eine Protestkunst der schwarzen Sklaven entstand, mixen Breakdance und Elemente moderner Electronica hinein zu einem hippen, modernen und doch traditionsbewussten Konzert der klackernden Füße.

Ungewohnt jazzig trat auch Anne Teresa de Keersmaeker an, sicher einer der größten Namen des Festivals. Gemeinsam mit ihrem ehemaligen Tänzer Salva Sanchis hat die belgische Choreografin für vier Tänzer ihrer Kompanie Rosas das zwölf Jahre alte „A Love Supreme“ neu aufpoliert. Nach einem lange knäckebrottrockenen, musiklosen Start, bei dem die vier Tänzer auf leerer Bühne gewissermaßen ihr Bewegungsmaterial vorsortierten, verblüffte der kurze Abend mit einer aufregenden Fusion des zeitgenössischen Stils mit Jazztanz.

Triumph der reinen Bewegung

Zu John Coltranes titelgebendem Jazzklassiker aus dem Jahr 1965 war jedem der vier Männer ein Instrument zugeordnet, in einem langsamen, großen Hineinsteigern tanzten sie nach dem Prinzip einer Jazzsession: freie Improvisation von einem Grundmuster aus. Jeder glänzte in seinem Solo, immer wieder groovten sich alle auf ein gemeinsames Unisono ein, lösten sich immer weiter von der intellektuellen Introvertiertheit des Anfangs und gaben ihre Körper dem Rhythmus, dem Schwung, der freien Erfindung hin. Aus den kargen Anfangsbedingungen heraus triumphierte die reine Bewegung zur Musik, der fusionierte Stil entwickelte einen mitreißenden Sog. Trockener und praktischer fusioniert man in Norwegen: „A Dance Tribute to the Art of Football“ huldigt im erdigen Tanzstil der nordischen Länder der Liebe zum Fußball - mit exaltierten Ronaldo-Posen in Unterwäsche, mit minutiös studierten Zeitlupennachbildungen von Fouls und mit Schwalben, die zu sterbenden Schwänen werden, mit Bällen, die sich auch mal kräftig wehren und mit jeder Menge Ironie. Die stabilen Mannen (samt tapferer Fußballerin!) der Jo Strømgren Kompani wurden zu losgelösten Hooligans, millionenschweren Stars und Kreisklasse-Helden, verwandelten die Liebe zum Spiel in eine originelle Groteske mit Bodenhaftung.

Wer sich für Eric Gauthier als „Talent“ hergibt, wird anderswo bereits hoch gehandelt, so groß ist das Renommee dieses Festivals. Einige der fünf Choreografen, die bei „Meet the Talents“ in wenigen Stunden Probezeit kurze Stücke für die immer noch besser werdenden Tänzer von Gauthier Dance erstellten, brauchen sich eigentlich nicht mehr beweisen. Giuseppe Spota etwa mit seinem schönen Duo, das sich aus der Form der Spirale ins Zentrum der Liebe hineindreht. Guillaume Côté, der Star des Kanadischen Nationalballetts, suchte mit schönen Ideen im klassischen Idiom den Menschen hinter der äußeren Maske, Shahar Binyamini von Batsheva Dance ließ eine unheimliche Matrix aufmarschieren. Den Vogel aber schoss Nadav Zelner ab, der im völlig schrägen „Bloom“ die Tanzgeschichte durch den Mixer jagte und neu zusammensetzte. Das ist Tanz mit einem schrillen Kreischen, grell, eklektizistisch, lustig und von so überschäumender Bewegungslust, dass man sich jetzt schon aufs Frühjahr 2018 freut, wenn der 25-jährige Israeli einen ganzen Abend für Gauthier Dance choreografieren wird.

Wem das alles vielleicht zu schrill, zu grotesk oder zu virtuos war, der bekam zum Abschluss noch die volle Breitseite modernes Tanztheater. Genau wie das letzte Colours-Festival endete auch die Ausgabe 2017 mit reiner Poesie, wurde die auch aus tiefster Depression geboren.

„Schwanensee“ im kaputten Heute

Der mehr gesprochene als getanzte „Swan Lake“ des irischen Choreografen Michael Keegan-Dolan verlegt die Geschichte des bekanntesten klassischen Balletts in ein versifftes, kaputtes Heute, statt Tschaikowsky erklingt melancholische irische Folklore. Der böse Zauberer ist hier Dorfherrscher und Kinderschänder (großartig fies: Mikel Murfi), der verlotterte Prinz ein nicht kommunizierender, bis zum Selbstmord in sich zurückgezogener Verlierer, seine Mutter ein Sozialfall im Rollstuhl, die Schwanenprinzessin ein verängstigtes, gequältes Kind.

Mit einfachsten Requisiten, ein paar Stühlen und Ytong-Steinen, malt das ungewöhnliche Tanzdrama dumpfe Vereinsamung und herrschsüchtige Willkür, um dann in kurzen, glücklichen Momenten die Macht unserer Fantasie triumphieren zu lassen. Eine schwarze Plastikfolie wird zum schützenden See, hohe Leitern zur himmlischen Erhebung, schwarze Schwanenflügel zu beschützenden Todesengeln. Wir ahnen, dass die Geschichte in Verzweiflung enden muss, aber zum Schluss tobt das gesamte Ensemble in Massen von weißen Federn über die Bühne, holt das unschuldige Kinderglück nach, das der Prinz und die Schwanenmädchen dieser todtraurigen Geschichte nie hatten. Keegan-Dolan ist auf dem Kontinent noch kaum bekannt, Entdeckungen wie diese machen zwischen all den großen Namen die Qualität des Festivals aus.