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Als Stipendiatin des Schriftstellerhauses hat die Autorin Svenja Gräfen in Stuttgart genau das gefunden, was Mietenwahnsinn und Gentrifizierung vielfach zerstören: den Freiraum, sich zu entfalten.

StuttgartAm Anfang stand für Svenja Gräfen das Café Galao. Als Studentin wippte sie dort einst unruhig auf einem Stuhl hin und her, im Kopf einen unscharfen Traum vom Schriftstellerleben, in den Händen eine Tasse Ingwertee. Ihr gegenüber saß der Vertreter eines Verlags und sprach über Dinge, die nach Zukunft klangen. „Ich war damals so dankbar, dass er sich überhaupt mit mir trifft“, erinnert sie sich heute.

Ganz so demütig ist die diesjährige Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses inzwischen nicht mehr. Die 29-Jährige ist angekommen in einem Leben, in dem man nie wirklich ankommen kann. Als Autorin und Bühnenpoetin arbeitet Svenja Gräfen selbstständig. Sie gibt Workshops über geschlechtergerechte Sprache, schreibt Essays über Feminismus und reist zu Poetry Slams in ganz Deutschland. Wenn ihre Eltern sie an Weihnachten fragen, wo genau sie im nächsten Jahr sein wird, kennt Gräfen die Antwort oft selbst noch nicht.

„Ich bin Teil der Gentrifizierung“

Früher dachte sie, diese Phase der Ungewissheit hätte man irgendwann überstanden. Doch heute mag sie das ständige Suchen und Neu-Ausrichten. „Ich will mir die Flexibilität bewahren, mich nicht auf ein Bild festzulegen, das für mich funktionieren muss“, sagt sie, während sie in einem Stuttgarter Café diverse Lagen von Winterjacken auszieht. Es ist ein kalter Dezembermorgen, und Svenja Gräfen pellt sich aus ihren Daunenschichten, als lege sie langsam einen Panzer ab.

In den letzten neun Jahren packte die Autorin ihr Leben neunmal in Kartons und Reisetaschen. Aus der Vulkaneifel zog sie nach Berlin, dann nach Köln und Stuttgart. Irgendwann landete sie in Leipzig, wo sie heute lebt. In der Nähe ihrer Leipziger Wohnung liegt die Eisenbahnstraße - die „gefährlichste Straße Deutschlands“, in der an manchen Tagen mehr Streifenwagen als Dönerbuden stehen. Doch eine bezahlbare Wohnung zu finden, sei auch in diesem Teil der Stadt nicht einfach gewesen, sagt Gräfen. Immer wieder habe sie erlebt, wie sich der Lebensraum in Städten verändere. Als sie 2010 nach Berlin zog, zahlte sie für ihr WG-Zimmer in Neukölln gerade einmal 200 Euro. Heute bekäme man für diesen Preis vermutlich nur noch einen Fahrradstellplatz. „Und ich bin selbst Teil dieser Gentrifizierung“, sagt Gräfen. „Das ist irgendwie erschreckend.“

Immobilienkrise den Finger zeigen

Auch ihr zweiter Roman „Freiraum“ erzählt von Menschen, die versuchen, anzukommen. Bei sich. Beieinander. In einer Welt, die einem das manchmal unnötig schwer macht. Die beiden Protagonistinnen des Buchs, Vela und Maren, sind genauso Teil der Gentrifizierung wie Svenja Gräfen selbst. Sie sind die Jungen, Aufstrebenden. Die, denen bescheinigt wird, ihnen stünde die Welt offen. „Aber wie viele meiner Bekannten müssen sie sich irgendwann die Frage stellen: Wo kann ich hin, wenn ich aus meiner WG ausziehe? Und was ist aus all den Möglichkeiten geworden, die ich scheinbar mal hatte?“, sagt Gräfen. Die Antwort im Roman: Vela und Maren – übrigens ein so unaufgeregt lesbisches Paar, dass man in der deutschen Gegenwartsliteratur vergebens nach einem Äquivalent sucht – ziehen gemeinsam in ein alternatives Wohnprojekt. Eine Kommune mit nahem Hofladen und noch näherem Wald, die gewissermaßen der Immobilienkrise in den Großstädten den erhobenen Mittelfinger zeigt.

Selbst hat Svenja Gräfen nie in einem solchen Hausprojekt gelebt. In Stuttgart, wo sie Kultur- und Medienbildung studierte, zog sie mit zwei Freundinnen in eine WG: fleckiger 80er-Jahre-Teppichboden, Feinstaub-Fenster, davor eine vierspurige Straße. Doch an etwas anderes kamen die drei Studentinnen schon damals nicht heran. „Einmal haben wir uns eine schöne Altbau-Wohnung im Heusteigviertel angeschaut, die uns ein Bekannter vermittelt hatte“, erinnert sich Gräfen. „Aber er hatte der Vermieterin gesagt, wir seien angehende Ärztinnen. Als rauskam, dass das nicht stimmte, hatten wir keine Chance mehr.“

Liebe zur miefigen Studentenbude

Ihre miefige Studentenbude habe sie dennoch geliebt. Überhaupt fühlte sie sich während ihrer Zeit im eingekesselten Stuttgart frei. „Von außen hat die Stadt den Ruf, sehr zugeknöpft zu sein. Und ich gebe zu, auch ich hatte Phasen, in denen ich dachte: Ich will zurück nach Berlin, da gibt es illegale Open-Airs und alles, was ich gerade suche. Aber dann gab es all das plötzlich auch hier, und es hat sich so viel bewegt“, erinnert sie sich.

Als Stipendiatin des Schriftstellerhauses ist Svenja Gräfen dieses Jahr das erste Mal in ihre alte Zwischenheimat zurückgekehrt, um drei Monate lang in einer kleinen Wohnung im dritten Obergeschoss des Fachwerk-Schriftstellerhauses zu leben. Ihr Schlafzimmer lag zu einer ruhigen Straße hin, bis zur U-Bahn waren es wenige Minuten. „Ich hatte hier so viel Ruhe und Freiraum, wie ich wollte“, sagt sie nun am Ende ihrer Stipendiaten-Zeit. „Ich habe die Zeit wirklich genossen.“

Veränderte Stadt

Doch seit Gräfens Studienjahren hat Stuttgart sich verändert. Ihre ehemalige Lieblingskneipe am Marienplatz ist jetzt ein Café, unter der Paulinenbrücke ist heute ein stadtplanerisches Spielfeld und kein Parkplatz mehr. Auch Gräfen selbst passt nicht mehr in das Bild, das sie als Anfang-Zwanzigjährige hier einst von sich zeichnete. Vor ein paar Wochen klingelte sie versuchsweise an der Tür ihrer ehemaligen WG. Einen Moment lang hatte sie Angst, sich lächerlich zu machen – doch dann summte der Buzzer, und eine Fremde bat sie hinein. Gräfen sah sich um. Sie starrte auf den fleckigen Teppichboden, die rußigen Fenster. Einzig die Küche war grundsaniert worden, ansonsten hatte sich kaum etwas verändert. Im Café zuckt Svenja Gräfen mit den Schultern: „Irgendwie ist es sehr schön, das zu sehen.“