Friedemann Vogel Quelle: Unbekannt

„Atem-Beraubend“, der neue Abend des Stuttgarter Balletts, nimmt nicht nur seinen virtuosen Tänzern den Atem, sondern oft genug auch dem Publikum. Schon rein musikalisch ist es ein ganz spezielles Programm im Stuttgarter Opernhaus – und tänzerische große Klasse.

StuttgartKlassisch begann die Spielzeit beim Stuttgarter Ballett, mit einem tollen modernen Abend endet sie nun: „Atem-Beraubend“ nimmt nicht nur seinen virtuosen Tänzern den Atem, sondern oft genug auch dem Publikum. Schon rein musikalisch ist es ein ganz spezielles Programm im Opernhaus, zweimal legen die Schlagwerker des Staatsorchesters mit wilden Trommelsalven los, im melancholischen Mittelstück sind es die Streicher mit dem grandiosen Sologeiger Sebastian Klein.

Als setze Itzik Galili einen Mechanismus in einer dunklen Maschinenhalle in Gang, schickt der israelische Choreograf seine Tänzer quer über 25 Lichtquadrate, die in geometrischen Mustern aufflammen, als ob sie und die Tänzer sich gegenseitig jagten. „Hikarizatto“ entstand 2004 fürs Stuttgarter Ballett als eine rein abstrakte, fast mathematisch durchstrukturierte Studie zu einem raffinierten Lichtkonzept. Was damals durch seine Virtuosität und Geschwindigkeit beeindruckte, hat durch den Abstand ein wenig verloren – mag es daran liegen, dass Galili den athletischen, klassisch grundierten William-Forsythe-Stil der 1990er-Jahre so affirmativ, ganz ohne ironische Brechungen verwendet oder mag es an der wenig raffinierten Dynamik liegen, denn der grundlegende Takt der Bewegungen bleibt viel zu gleichmäßig. Das virtuose Perpetuum mobile bietet den Stuttgarter Ballerinen reichlich Gelegenheit, ihre Beine so hoch wie möglich hinaufzuwerfen, es baut aber am Ende stärker auf Effekt als auf künstlerischen Nährwert.

Traurige Schönheit

Von trauriger, rätselhafter Schönheit ist „Out of Breath“ des Schweden Johan Inger. Zu melancholischer und später dramatisch-dunkler Streichquartettmusik von Jacob ter Veldhuis und Félix Lajkó stehen die Tänzer ratlos um ein meterhohes, elliptisch geschwungenes Objekt aus weißen Brettern herum, umkreisen es rennend, versuchen immer wieder hinaufzuklimmen. An was sich die drei Frauen und drei Männer da abarbeiten, erkennt man erst später, wenn sich die Mauer ein wenig dreht: Es ist ein halbes Herz, das gerade im Boden versinkt – ein geliebter Mensch zwischen Leben und Tod. Tatsächlich wirkt das ergreifende Stück manchmal wie eine Sterbebegleitung: Warten in dumpfer Hilflosigkeit, verzweifeltes Balancieren auf dem schmalen Grat, wildes Hoffen und Resignieren. Ein paar Mal hebt Elisa Badenes in voller Geschwindigkeit ab, schwebt hoch über Louis Stiens und bleibt doch mitten im Flug stecken. 2002 schuf Inger das Stücks für die Juniorenkompanie des Nederlands Dans Theaters, sein robuster, geerdeter Stil ist neu für Stuttgart. Die sechs Interpreten, so wehmütig und flehentlich sie auch tanzen, tönen ihn ebenso mit einem feinen, akademischen Unterton wie den indischen Stil von Akram Khan – manchmal wünscht man sich, dass sie alle ein wenig mehr loslassen.

Denn auch Khans „Kaash“ eröffnet den Stuttgarter Tänzern einen neuen Bewegungsstil. „Was wenn“ bedeutet der Titel auf Hindi. Als einstündiger Abendfüller war das Stück 2002 der große Durchbruch des inzwischen hochberühmten britischen Choreografen mit Wurzeln in Bangladesch, damals tanzte er noch selbst. Auf eine halbe Stunde komprimiert und mit 14 statt fünf Tänzern ist es nun in Stuttgart angekommen, hoffentlich als Vorbote einer weiteren Zusammenarbeit mit Khan. Wilde Windmühlen-Schläge der Arme, so prägnant gesetzt wie in den asiatischen Kampfkünsten, plötzliche Stopps und wirbelnde Pirouetten vermitteln eine Ahnung der Geschichten, die im klassischen indischen Kathak-Tanz erzählt werden, vom ewigen Zyklus aus Kreation und Zerstörung. In vollkommener Versunkenheit steht Friedemann Vogel inmitten des Geschehens, vielleicht ist er die meditierende Gottheit Shiva, die zentrale Figur des Kathak. Auch er bricht später in rasante, rhythmisch synkopierte Drehungen aus, lässt seine Hände in fein ziselierten Zeichen mäandern und beendet das Stück nach einer Art Häutung oder Erneuerung mit weit offenen Armen.

Wirbelnde Parallelen

Akram Khan kombiniert nicht Kathak mit Ballett, sondern er öffnet den indischen Tanz in eine zeitgenössische Sprache hinein. Trotz ihrer stark rhythmischen, weit ausgreifenden Bewegungen berühren sich die barfuß tanzenden Interpreten kaum, sie wirbeln in parallelen Ritualen über die Bühne oder umkreisen einander. Wie martialische Kriegstrommeln elektrisiert die Musik des Briten Nitin Sawhney zunächst, später wird indischer Scat-Gesang, verbalisierte Rhythmen in rasend schnellem Singsang, per elektronischen Loops zu den fantastischen Schlagwerkern eingespielt. Anfangs nüchtern, später tiefrot umglüht, öffnet an der Rückwand ein schwarzes Rechteck den Blick ins Nichts. Entworfen hat das Bühnenbild der bekannte Bildhauer Anish Kapoor.

Die Stuttgarter Tänzer werfen sich mit Leidenschaft in den neuen Stil, neben Alessandro Giaquinto, Adhonay Soares da Silva oder Shaked Heller beeindruckt vor allem Agnes Su, die wie Seide über die Bühne fließt. Der schön zusammengestellte Abend erweitert die ohnehin reiche Palette der Kompanie um zwei neue, spannende Farben.

Die nächsten Vorstellungen: 5., 13., 21. und 24. Juli, dann wieder im Oktober.