Detail aus den „Indescribable scenes“, einer Installation mit 281 Epoxidharzquadern. In diese ist jeweils eine auf Overhead-Folie gezeichnete Szene eingegossen. Foto: Städtische Galerien Quelle: Unbekannt

Von Dietrich Heißenbüttel

Esslingen - Als Agnosie oder auch Seelenblindheit bezeichnet die Medizin seit Sigmund Freud, wenn ein Patient aufgrund einer Schädigung des Gehirns die Dinge zwar sieht, aber nicht erkennt und nicht benennen kann. Um einen Film mit dem Titel „Soul Blindness“, von dem bisher nur einer von 30 dreiminütigen Abschnitten existiert, dreht sich die aktuelle Ausstellung der Villa Merkel. Und zwar beginnt es gleich im Foyer mit einer leicht schräg gestellten, spitzwinklig-viereckigen, glänzend grünen Plattform, auf der ein weißer, sich oben gabelnder Baum steht. Die eigens patentierte Farbe soll nicht etwa eine Wiese andeuten, sondern dient als Greenscreen, um Personen freizustellen und anschließend vor einen anderen Hintergrund zu stellen. Der Baum könnte aus dem 3-D-Drucker stammen, wäre das nicht zu teuer. Also sieht man ihm an, dass er mit den Händen plastisch modelliert ist.

Regeln des Kunstmarkts außer Kraft

Ist das nun ein Filmset, ein Hintergrund, eine Bühne? Es ist der Grundriss des Zimmers von Jak. Aber wer ist Jak? „Jak wants to remain anonymous“ steht, Buchstabe für Buchstabe, auf 30 Schachteln, die jeweils ein Kunstwerk, ein Skizzenbuch und eine Fotodokumentation enthalten, zur Eröffnung einzeln verkauft wurden und nun mitsamt Kaufverträgen in einem Raum rundum an den Wänden aufgereiht sind. Eine Künstlergruppe anscheinend, mehr ist dazu nicht in Erfahrung zu bringen. Aber die Schachteln setzen die Regeln des Kunstmarkts außer Kraft, denn zum einen erhielten die Käufer für nur 35 Euro eigentlich viel zu viel Original-Kunst - unter anderem ein eigenständiges Werk und ein Skizzenbuch - zum anderen verpflichteten sie sich durch den Kaufvertrag, ihre jeweilige Schachtel jederzeit für Ausstellungen zur Verfügung zu stellen.

Das Zimmer taucht mehrfach wieder auf, wenn auch nicht vollständig. Zwei grünliche Glaswände, gestützt von Eisenkonstruktionen, stehen spitzwinklig im Raum. Zwei Räume weiter geht das Licht an, aber die schimmernden, halbtransparenten Glasplatten bleiben im Dunkel. Doch wenn man hinüber geht zu den 281 wie ein großer Kronleuchter im Kreis herum von der Decke herabhängenden kleinen Quadern, in die kleine Szenen, auf Folie gezeichnet, eingegossen sind, geht das Licht aus und stattdessen leuchtet es hinter den Glaswänden im Raum, wo man eben noch war. In der Mitte dreht eine zweischalige Figur Pirouetten. Wenn sie langsamer wird, wird der Schriftzug „Blue Star“ erkennbar, die weißen Kanten im Schwarzlicht leuchtend. Weiter hinten ist in einen schwarzen Kasten eine Linse eingelassen. Sieht man von oben hinein, steht dort das Zimmer von Jak im Modell. Aber vorher, in einem bestimmten Winkel betrachtet, scheint es bereits oben auf der Linse zu stehen.

Unmerkliche Veränderung

Offenbar haben es die Künstler darauf abgesehen, die Wahrnehmung durcheinanderzubringen, so dass man nicht mehr benennen kann, was man sieht: entsprechend dem Thema der Ausstellung, der Agnosie. Wie in einem Kaleidoskop brechen sich Formen und Farben und kehren an anderer Stelle, in anderer Form wieder. Die kleinen liegenden Quader etwa als Rechtecke, aus denen sich ein vierteiliges grünes Leinwandgemälde zusammensetzt, von spitzen Winkeln zerteilt, sodass daraus einzelne Worte und Buchstaben entstehen. Aber wer versucht, genau nachzulesen, muss nach kürzester Zeit aufgeben. Dies scheint sich in einem anderen Raum zu wiederholen. Doch wer das Triptychon dort einen Augenblick länger betrachtet, merkt, dass es sich nahezu unmerklich verändert: Diesmal handelt es sich um ein Video, nicht um Malerei.

Vorbereitend zur Ausstellung hat schon im März in der baden-württembergischen Landesvertretung in Brüssel eine Diskussion über Anonymität in der Kunst und Populismus stattgefunden. Die Redebeiträge lassen sich über Kopfhörer nachhören - allerdings reden immer alle vier Diskutanten zugleich, so dass kein Wort zu verstehen ist.

Wer den Kopfhörer abnimmt und zurückblickt in den Raum, aus dem er gekommen ist, wundert sich über die magentaroten Wände, die ihm vorher gar nicht aufgefallen waren. Tatsächlich entsteht dieser Eindruck nur, weil der Raum, in dem man sich selbst befindet, in grünes Licht getaucht ist. Dies wiederholt sich noch zwei Mal in der Ausstellung. In der oberen Etage der Villa Merkel finden sich eine Reihe weiterer - auch zwei ältere - Arbeiten von Jak, die sich mal enger, mal weitläufiger an das Thema anlehnen. Auf einem übermannshohen Tisch scheint eine Platte aus Nebel zu liegen, auf der weiße, in weichen Rundungen getöpferte Porzellanvasen stehen. In einem Raum sind Modelle des Zimmers von Jak, andeutende Porträts und nur teilweise zu entziffernde Schriften zu sehen. Wieviel sorgsame Arbeit in der Ausstellung steckt, zeigen in einem anderen Raum 41 senkrecht von der Wand abstehende Rahmen. Sie enthalten Buchseiten aus einem Werk über Agnosie, auf den Kopf gestellt und die Worte alle einzeln ausgeschnitten und ausgefaltet, so dass sich nur mit allergrößter Mühe und guten Augen ein Text entziffern lässt.

Das Zusammensetzen eines Traums

Der Film schließlich zeigt eine Figur mit Kapuzenpulli auf nächtlichen Straßen und Dächern, vielleicht von New York. Eine Stimme spricht vom Traum, der sich der Logik der Benennung, der Eindeutigkeit der Kommunikation widersetzt. Sie vergleicht die agnostische Störung - agnostic disorder - mit dem Versuch, nach dem Aufwachen einen Traum wieder zusammenzusetzen. „I am this disorder“, sagt die Stimme, ich bin diese Unordnung, verkörpert von der Figur vor einer undefinierbaren Stadtlandschaft, während der Himmel grün zu leuchten beginnt. Aber er habe einen Weg gefunden, mit dieser Störung zu leben, so der Sprecher: „Now it begins“, jetzt fängt es an. Und damit endet das Video.

Die Ausstellung in der Villa Merkel läuft bis 27. August und ist dienstags von 11 bis 20 Uhr, mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet.