Von Dietholf Zerweck

Stuttgart - „L’écoute“ ist die meistgebrauchte Vokabel in Luis Codera Puzos dreiviertelstündiger Komposition „Empor“ für Solosopran, drei Frauenstimmen, drei Flöten und drei Kontrabässe, in dem die Solistin in einem langen Monolog den kreativen Prozess des Hörens wortreich beschwört. Mal mit Pathos skandierend, mal im Singsang oder mit kurzen, spitzen Vokalisen unterstreichend, unterzieht sich Sarah Maria Sun dieser Performance am Schlusstag des Festivals „Der Sommer in Stuttgart“, bei der die versierte Interpretin experimenteller Vokalmusik sängerisch wenig gefordert ist. Stattdessen entwickelt sich im Verlauf des Stücks eine Art Melodram. Nach dem rhetorisch aufgeladenen Vortrag des von Irène Gayraud verfassten Textes kommt dann im Schlussteil die Musik stärker zu Wort: litaneiartig, mit langen Pausen zwischen den Anrufungen, führt der Weg über „Inseln“ des Hörens in ein Anderssein, in dem das Phänomen des Sich-Öffnens als „Verlust der Grenze“ wahrgenommen wird: „L’écoute est une perte de frontière“. Das zu redundante, textlastige Stück hinterließ unter der Leitung von Manuel Nawri und unter Mitwirkung von Mitgliedern des Ensemble Crossing Lines am Ende einen zwiespältigen Eindruck.

Girren und zwitschern

Auf alle Fälle witziger und amüsanter waren danach die für die Neuen Vocalsolisten komponierten 20 Miniaturen von Ming Tsaos „Das wassergewordene Kanonbuch“, in denen sich Harmonie- und Zahlenverhältnisse der Renaissancemusik mit Wortfetzen und Naturlauten mischen. Eine Erstfassung dieser Rätselkanons war Teil von Ming Tsaos Musiktheater „Die Geisterinsel“ nach Shakespeares „The Tempest“, die 2011 von der Stuttgarter Oper im Lesesaal der Württembergischen Landesbibliothek uraufgeführt wurde. So wie der Geisterchor damals in seinen musikalischen Texturen das Verhältnis zu den auf die Insel verbannten Prospero und Miranda verkörperte, kämpfen sich nun im „Kanonbuch“ die sechs Stimmen durch die Fluten von Madrigalharmonien und deren moderne Kontrapunkte. Johanna Zimmer girrt und zwitschert, Susanne Leitz-Lorey schwätzt dazwischen, Truike van der Poel wirft einen Klangbogen zum Nachbarn Martin Nagy, der ins rhythmisch nasale Stottern gerät, Guillermo Anzorena windet sich in Fiorituren, und Andreas Fischer brummt unverdrossenes Ostinato. Bravourös.

Performativer Gag

Die letzten Stunden des divergenten Sommerfestivals für Neue Musik gehörten zwei Stipendiatinnen der Akademie Schloss Solitude, die sich im Genre der experimentellen Musikperformance schon einen Namen gemacht haben. Frauke Aulbert ließ mit Stimme, Kehlkopf, Lippen und elektronischen Impulsen im Stil des Beatboxing Kurt Schwitters dadaistisches Lautgedicht „Ursonate“ und die „Récitation No. 13 Kat Ga“ von Georges Aperghis Revue passieren, bot einen Remix von Ondrej Adámeks im letzten Jahr uraufgeführter „Airmachine“ für Video und Stimme und agierte in Ole Hübners „Mehrfachbelichteten Melodramen“ live, vom Tonband und mit gefilmten Verdopplungen.

Die Britin Gwen Rouger begann ihre Performance vor dem Transparentvorhang, indem sie an ihren Schläfen Elektroden befestigte und sodann in Alvin Luciers „Music for Solo Performer“ wie ein Medium Donnerblech in den Tiefen des Raums erscheinen und erzittern ließ oder Klavierhämmer aus ihren Verankerungen löste. Ihre Soli für Keyboard, Stimme, Video und Live-Elektronik (Stefan Prins, Simon Steen-Andersen) kombinierten visuelle und akustische Überraschungseffekte mit virtuosem Touch, Michael Beils „Key Jane“ mit Live-Video und Tonband war zum Schluss einfach ein gelungener performativer Gag. Das Publikum - zur Hälfte Künstlerkollegen von der Solitude-Akademie - jubelte.