Fast 33 Jahre lang war Klaus Lerm an der Esslinger Landesbühne, was für ihn das größte Glück war. Der Schauspieler hat die WLB geprägt.

EsslingenEs stand mal wieder so ein modernes Stück auf dem Plan. „Des gibt was z’samme no“, bruddelte ein älterer Herr im Publikum. „Du, d’r Klaus Lerm schbield mit“, bemerkte die Gattin. Darauf der Gemahl: „Dann wird’s was.“ Der Schauspieler Klaus Lerm erzählt diese Geschichte, die ihm zugetragen wurde, nicht einfach so. Dazu ist er zu bescheiden. Man muss den Ruhm aus ihm herauskitzeln – mit der Frage, was sein größter Triumph war in langen 32 Jahren an und auf der Esslinger Landesbühne (WLB). Dass er keine künstlerischen Heldentaten nennt, keine stolze Selbsteinschätzung einer bahnbrechenden Darstellerleistung, sondern eine Reaktion aus dem Publikum, erst recht aus dessen spröderem Teil: Das ist bezeichnend für den mittlerweile 85-Jährigen, der von sich sagt, er habe „nie Karriere machen, sondern Theater spielen wollen“. Wahrlich kein kokettes Understatement: Klaus Lerm – ein Schauspiel-Handwerker im besten Sinne des Wortes, ein Bühnenkünstlers mit der Gabe kluger Einfühlung und einer Souveränität darstellerischer Mittel, die jeder noch so popeligen, noch so widerborstigen Rolle Format und Charakter verlieh; den Glanzpartien sowieso. Wenn er spielt, „dann wird’s was“: Darauf konnte sich das Publikum verlassen. Und darin besteht Klaus Lerms persönliche Karriere – an der Esslinger Landesbühne. Angebote hätte er genug gehabt. Er blieb. Und wurde glücklich: „Es hätte mir nichts Besseres passieren können.“

Engagement nach Maß

32 Jahre WLB – fast ein Drittel der gesamten Geschichte des Hauses, das derzeit sein 100-Jahr-Jubiläum feiert, hat Klaus Lerm aktiv mitgestaltet. Ein Rekord, den er mit seinem Kollegen, dem vor zwei Jahren gestorbenen Rudolf Schulz, teilt. 1965 geriet Lerm an die WLB – „ich bin nach Zentimetern engagiert worden“. Wie das? Man suchte eilends einen Ersatz nach Maß für einen zum Fernsehen gewechselten Schauspieler, einen groß gewachsenen Akteur im damals noch verbindlichen Rollenfach des jugendlichen Liebhabers. Da kam der junge Mann aus Braunschweig – kein Lulatsch, aber durchaus von der preußischen Garde-Statur eines langen Kerls – gerade recht. Schon vorher hatten ihm Wuchs und Erscheinung ein Engagement beschert: „In Paderborn schaute der Intendant aus dem Fenster und sagte: ,Den nehm’ ich’.“ Der Intendant war Elert Bode, später in Esslingen traf man sich wieder.

1997 ging Klaus Lerm in den Ruhestand, vier Jahre später kehrte er zum – bislang? – letzten Mal auf seine geliebte Esslinger Landesbühne zurück, mit einer Gastrolle in „Pension Schöller“. „Das wollte ich schon immer mal spielen, das hat Riesenspaß gemacht“ sagt er, der hohen Kunst des Klamauks so wenig abhold wie der hehren Klassik und den Ernstfällen theatralisch gespiegelter Realität.

Heute, mit 85, ist Lerm quicklebendig, sprüht vor Erinnerungscharme und Gegenwartswitz, lebt nach wie vor in der Esslinger Altstadt – in einem Jahrhunderte alten Haus mit steilen, fitnessfördernden Stiegen und einer zig Regale füllenden Bibliothek („da werde ich jetzt aussortieren, aber Bücher will ja niemand mehr“).

Die Sesshaftigkeit ist ihm teuer, der „ständige Wechsel von Wohnsitzen und Beziehungen ein Gräuel“. Natürlich hat er in seinen Anfängen das unstete Schauspielerleben mitgemacht, auch als er in Esslingen anheuerte, war keineswegs klar, wann er wieder von Bord geht. Dafür war alsbald seine erste Ehe futsch: „Im Ensemble war Halligalli, wir wollten und mussten uns beweisen. Während meine damalige Frau mit unserer kleinen Tochter in der fremden Stadt in möblierten Zimmern saß und ihren Beruf nicht ausüben konnte. Der Frust war groß.“ Als Lerm später seine zweite Frau, eine Esslingerin, heiratete, war für ihn klar: „Ich gehe nicht mehr weg.“

Die Weichen auf Dauer gestellt rollte der persönliche Thespiskarren des Klaus Lerm zwar nicht mehr durch die deutschsprachige Theaterlandschaft, wohl aber durch ihre Geschichte, die eben auch in Esslingen spielt: „Alle Intendanten, die ich an der WLB erlebt habe, versuchten, auf dem Laufenden zu bleiben. Wir haben es uns nicht hinter dem Mond gemütlich gemacht, sondern wollten stets das aktuellste Theater bieten.“ Was Höhen und eben auch Tiefen bedeutet: die Phase der Mitbestimmung in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren? „Das hat nicht funktioniert, denn es zeigte sich: Schauspieler sind keine Dramaturgen, sie wollen Rollen spielen.“ Modische Regie-Experimente? „Da dachten wir schon mal: ,So ein Scheiß!’ Aber der Regisseur reist ab, und die Schauspieler ruckeln sich das auf der Bühne dann einigermaßen zurecht.“ Pragmatisch eben und publikumszugewandt, aber nicht stur konservativ: „Es ist toll, neue Formen und Stücke auszuprobieren, statt immer nur dieselben Klassiker herunterzunudeln“, sagt Lerm.

Hallervorden und Hallerhinten

Man merkt: Sein beeindruckendes Gedächtnis ist kein Nostalgiespeicher, sondern reflektiert Fragen des heutigen Theaters, das Lerm hellwach beobachtet. Freilich erinnert er sich auch an Amüsantes, etwa vom 50-Jahre-Jubiläum der WLB anno 1969. Als Conférencier für die Jubelfete wurde ein damals weitgehend unbekannter Berliner Kabarettist namens Dieter Hallervorden eingekauft. Den legendären WLB-Schauspieler Kurt „Kulle“ Wendolin mag das pikiert haben, jedenfalls trat er am Ende auf die Bühne und sagte: „Das war Herr Hallervorden, ich bin Herr Hallerhinten.“ Nicht alle fanden es lustig. „Das gab Ärger“, schmunzelt Lerm.

Geärgert, ja – das hat auch er sich bisweilen. Nicht über freche Gags, wohl aber über schnöde Missachtung der dichterischen Sprache. „Gelitten“ hat er einmal in Lessings „Nathan“ unter den „gefühllosen“ Strichen des Regisseurs – gefühllos für den Rhythmus, den Klang, die Pointen der perfekten Blankverse. Denn Lerm, der Sprachbegeisterte, der große Kommunikator mit dem Publikum, weiß: „Es gibt nichts Schöneres, als Pointen abzufeuern. Das Publikum reagiert sofort.“ Und da meldet sich denn auch Kritik am Gegenwartstheater zu Wort: „Ich bewundere, was die jungen Schauspieler alles können“, sagt Lerm – und lässt erwartungsgemäß ein großes Aber folgen: „Sie sprechen oft wie in ein Mikrofon – vernuschelt, zu schnell, wie aus Angst, theatralisch zu wirken. Wir müssen aber auf der Bühne überhöht sprechen, den Text senden, den Bogen bis in die letzte Reihe spannen.“

Er selbst hat ihn bravourös gespannt, den Bogen; „von links bis rechts“, wie er sagt, ob als Prolet oder Fatzke, tragischer Held oder komischer Schnösel. Und er kann nicht anders, als sein darstellerisches Können selbstironisch zu quittieren: „Vielleicht bin ich ja doch eine Rampensau.“