Schmutzwäsche in der Schmuddelküche, und der Staatschef grinst von der Wand: Cornelia Ptassek als Medea und Sebastian Kohlhepp als Iason. Foto: T. Aurin Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - In der Oper „Medea“ von Luigi Cherubini und dem Textdichter François-Benoît Hoffman bleibt eine Frage offen: Warum gewährt der Herrscher Kreon der Titelheldin, einer Asylbewerberin ohne Duldung, einen verhängnisvollen Tag Aufschub bei der sofortigen Abschiebung, wenn doch die ganze Bagage schon Schiss hat, sobald auch nur der Name Medea genannt wird? Nur weil Kreon, wie alle Tyrannen, lauthals krakeelt „Ich bin kein Tyrann“? Und als Beweis lässt er ausgerechnet gegenüber der hochgradigen Gefährderin unpopuläre Milde walten? Überzeugt nicht so recht. Der Regisseur Peter Konwitschny gibt Kreon einen Grund, dem der Bunga-Bunga-Potentat nicht widerstehen kann: Sex. Der mächtige Schürzenjäger ist mehr als nur empfänglich für den Zauber der fremden, der verfemten „Hexe“, und deshalb sehen wir Medea im Stuttgarter Opernhaus, wie sie Kreon einen bläst. Der Blowjob ist allemal gut für einen Tag Asylverlängerung; einen Tag, an dem Medea ihre Kinder aus der Ehe mit Iason töten wird und Kreons Töchterlein Kreusa, die frisch vermählte neue Gattin ihres Ex, gleich mit. Das tragische Finale ist gerettet. Und bei Konwitschny ist eine Revolution - vorerst - gescheitert. Er zeigt am Ende eben nicht den erweiterten Suizid, nicht (nur) das Psychodrama einer Frau, die sich im Selbst- und Kindermord für die Kränkung des Verlassenwerdens rächt. Anders als im Original ersticht sich Medea nicht selbst. Das besorgt eine Orgie der Lynchjustiz. Das Volk des Populisten Kreon wütet unterschiedslos gegen all die Fremden, die einst als Flüchtlinge, aber keineswegs mittellos ins Land kamen. Mit Medea wird auch ihre Gefährtin Neris gemeuchelt, Iason selbst kommt mit dem Leben nicht davon, weitere Tote stehen zu erwarten.

Die Mordtat erhebt Anklage

Kurzum: Konwitschny geht es um keinen Kriminalfall, sondern um einen Gesellschaftszustand, der ihn bedingt - und viceversa als revolutionäres Fanal leuchten lässt. Medeas Tat erhebt Anklage gegen eine Sozietät saturierter Dumpfbacken, die der Regisseur mit allen Mitteln des Läppischen, Lächerlichen und Kitschvergnügten im Zustand fortgeschrittener Konsumverblödung vorführt. Cherubinis Musik arbeitet dem durch denkwürdige Differenzierung zu: Konventionelles bis hin zum formelhaft Abgedroschenen mischt sich in die Tonsprache der Chöre und aller Rollen bis auf Medea, deren exponierte Leidenschaft tatsächlich einem revolutionären Aufschrei - auch musikhistorisch - gleicht. Bei manchen ihrer aufgewühlten, intervallgespreizten, expressiv in einem bis dato unerhörten Maß aufgeladenen Passagen glaubt man kaum, dass das tatsächlich wenige Jahre nach Mozarts Tod komponiert wurde. Auch inhaltlich bietet das Stück allerlei Steilvorlagen für gegenwartskritisches Opernregietheater. Thema (Neo-)Imperialismus: Iason und seine Truppe haben mit Medeas Hilfe deren fernes Heimatland geplündert. Thema Schuldzuweisung und Heuchelei: Die Gräueltaten, die die heillos in Iason verschossene Medea bei jenen Beutezügen zu seinem Profit begangen hat, haut er ihr jetzt um die Ohren. Thema Karriere: In Kreons Reich, einer Art Paradise Island für kriminelle Geschäftemacher, erwartet Iason der große Aufstieg, wenn er Medea zwecks neuer Hochzeit zum Teufel jagt. Er rechtfertigt sich mit schmierigem Opportunismus (Einbürgerung gegen Kohle, also Schutz, für sich und die Kinder).

Sitzt, passt, wackelt - und hat viel heiße Luft bei Konwitschny. Was im Original in der Schwebe bleibt, sortiert er nach dem Gut-Böse-Schema. Medea, Revolutionärin: gut. Iason, mieser Karrierist im Käpt’n-Anzug: böse. Kreon, sonnenbebrillter Berlusconi-Verschnitt aus frisch facegelifteten Zeiten mit zwei Bodyguards: erst recht böse. Kreusa, dumme Gans, die vor Medea-Schreck in die Besenkammer springt: böse durch Doofheit. Das Volk, peinlich geschniegelt in seinen Bonbonfarben und peinsam verblödet: dito. Die Engführung von Dummheit und Bösartigkeit, natürlich niedergangsdiagnostisch gemünzt auf kulturelle Verflachung und politisch-populistisches Twitter-Elend der Gegenwart, zeigt Hassfratze, wenn Konwitschny knüppel- oder dolchbewehrte Rollkommandos samt vergewaltigendem Pfaffen aufmarschieren lässt. Trotzdem geht die Eindeutigkeit in die Falle einer doppelten Verharmlosung: Die Deppenparade verzwergt Macht und Manipulation zu falscher Naivität, die Revolutionärin als Lichtgestalt wiederum unterschlägt, dass sie die Allegorie einer Revolution ist, die ihre Kinder tötet (bei der Pariser Uraufführung 1797, drei Jahre nach der Grande Terreur, war dieser Bedeutungsabgrund noch unmittelbar brisant).

Alles Leid des Spätkapitalismus

So ist Konwitschnys Inszenierung zuvorderst ein moralischer Appell, in den alles Leid des Spätkapitalismus einfließt - von menschlicher Entfremdung über Fremdenhass bis zur Umweltvernichtung. Wo sich monetäre wie sexuelle Gier mit totaler Verantwortungslosigkeit paart, wo in Deals eine Hand die andere wäscht, wo der mit Handschellen gesicherte Aktenkoffer (das Goldene Vlies: hier ein Wertpapier-Portfolio) rüber- und die Braut hinübergeschoben wird, wo es Pässe für die Erledigung globalisierter Drecksgeschäfte gibt: Da zählt Menschliches so wenig wie die Natur. Die Niederungen solcher Macht ließ der Regisseur von Bühnen- und Kostümbildner Johannes Leiacker in eine Schmuddelküche bannen, wo man unter sich ist - und wie auf einem Floß vor fahlgelb-hermetischem Horizont mit Notausgang ins Nichts auf einem Plastikmüll-Meer schwimmt.

Also klare „Empört euch“-Kante als Regiegestus: nicht falsch, aber eindimensional. Stark ist die Inszenierung, wo sie ihren Pauschalwaschgang subtil unterläuft. Etwa wenn Iason aus seiner Flegel-Pose gegenüber Medea fällt, sein letzter Moment wahrer Empfindung in den letzten Koitus und der in den Interruptus mündet, weil dem Manne der soziale Aufstieg eben doch wichtiger ist. Oder wenn die Kinder in aller Natürlichkeit sich mit ihrer Mutter verbarrikadieren, als wäre es nur ein Spiel gegen die blöden anderen Erwachsenen. Dass Medea sie mit dem Dolch dann eher streichelt als ersticht, hält dieses Als-ob - vielleicht allzu schönfärberisch - in spielerischer Schwebe.

In den gesprochenen Dialogen schlägt freilich die Schwierigkeit des Werks zurück: Bei den meisten Sängern klingt‘s nach unfreiwillig er Pathos-Parodie à la „Raub der Sabinerinnen“ - lächerlicher noch durch Konwitschnys boulevardesk aktualisierten Wortlaut. Aber singen können sie, an erster Stelle Cornelia Ptassek als Medea. Sie vermag Melodisch-Inniges edel zu fokussieren und verleiht zugleich den giftigen Höhen die furiose Attacke von Verzweiflung und tödlichem Triumph. Nur in deklamatorischen Passagen verliert ihr Sopran etwas an Substanz. Sebastian Kohlhepp singt den Iason mit grobkörnig-kräftigem, aber zur Nuancierung durchaus fähigem Tenor. Markant, wenn auch mit begrenzter Durchschlagskraft Shigeo Ishino als Kreon, licht und schön nach etwas verzittertem Beginn Josefin Feiler als Kreusa. Als Neris lässt Helene Schneiderman ihren wunderbar mild-expressiven Mezzo strömen.

Wahrhaft überragend schon von den fallenden f-Moll-Dreiklängen der Ouvertüre an das Staatsorchester in Alejo Pérez’ Leitung. Der Dirigent entfesselt die Dynamik von Cherubinis Musik zu grandioser Wucht, ohne die Intensität des Leisen, die Transparenz der feinen, psychologisierenden Zwischentöne zu opfern. Ein erregendes Seelendrama tönt aus dem Graben. Dafür und für die Sänger gab’s viel einhelligen Premierenapplaus, für Konwitschny auch ein paar Buhs.

Die nächsten Vorstellungen: 8. und 27. Dezember, 8., 15. und 31. Januar, 5. Februar.