Probenszene aus der Abschlussperformance. Foto: Theater.Prekariat Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart- Erst sind da auf dem Boden nur die weißen Linien eines Rechtecks zu sehen, etwa 1,60 mal drei Meter groß. Dann werden die 14 Personen auf der Bühne von einer Dame im weißen Kittel aufgefordert, ihre nummerierten Koffer so akkurat im Rechteck abzustellen, dass sich am Ende eine zerklüftete Liegelandschaft ergibt. „Wenn ich im Bett lag, war ich umschlossen von Holzbrettern, damit ich nicht hinausfalle“, spricht Doris in den Raum hinein. Jeder der Protagonisten erinnert sich nun an sein Bett, wie es im Hause der Eltern stand - der Inder Jay memoriert auf Englisch, Saood aus Syrien auf Arabisch und Feriz auf Mazedonisch. Währenddessen legen sich alle nacheinander in das Rechteck hinein, auf und zwischen die Koffer. Und je mehr Menschen drin sind, desto akrobatischer werden die Versuche, in dieser Enge eine möglichst komfortable Schlafstellung zu finden. Es ist ein eindrückliches Bild für das Thema des Theaterprojekts „Linien.Grenzen.Räume“, welches das freie Ensemble Theater.Prekariat in Kooperation mit dem Stuttgarter Staatsschauspiels erarbeitet hat. Am kommenden Freitag wird es in einer Abschlussperformance im Nord präsentiert.

In diesem Projekt arbeiten jeweils zur Hälfte Flüchtlinge und junge Stuttgarter Bürger, ob deutscher Herkunft oder aus anderen Ländern stammend, mit der bildenden Künstlerin Viyki Turnbull und der Regisseurin Adelheid Schulz zusammen. Diese Mischung im Ensemble ist der Dramaturgin Anna Haas sehr wichtig: „Es geht darum, dass untereinander Freundschaften und Netzwerke entstehen, dass man sich gegenseitig stützt und hilft.“ Gewonnen wurden die Flüchtlinge vor allem durch Theater-Workshops, mit denen man an Sprachkurse der Stuttgarter Volkshochschule herangetreten ist.

Vielstimmiger Tagesablauf

In „Linien.Grenzen.Räume“ werde keine Geschichte erzählt, sondern ein vielstimmiger Tagesablauf, erklärt die Regisseurin. „Es geht um die unterschiedlichen Lebensrealitäten der Mitwirkenden, wie sie nebeneinander existieren, wo sie sich in die Quere kommen, wo Grenzen überschritten werden.“ Das zeige sich schon bei den Proben immer wieder: „Es ist nicht einfach, das zusammenzubekommen: einerseits die Leute, die hier ein ganz ‚normales‘, geregeltes Leben haben und feste Strukturen gewöhnt sind. Und andererseits die Geflüchteten mit ihrer unsicheren Lebenssituation und ihren Fluchterlebnissen. Wie finden wir da einen Rahmen für die Proben und Kontinuität in der Arbeit? Da musste jeder von uns aus seiner Komfortzone heraus“, erklärt Adelheid Schulz. Seit September wurde wöchentlich geprobt. Die Texte entstanden aus den Erfahrungen eines inszenierten Stadtspaziergangs, in Schreibwerkstätten mit der deutschen Schriftstellerin Sudabeh Mohafez und in Materialexperimenten mit der bildenden Künstlerin Viyki Turnbull.

Dieser Prozess sei genauso wichtig wie das künstlerische Ergebnis, sagt Anna Haas: aufzubauen auf dem Material, das man gemeinsam entwickelt habe, sich auf Augenhöhe auszutauschen, die Perspektiven zu wechseln und sich in den anderen hineinzuversetzen. Es gehe dabei weniger um psychologische Einfühlung als um die Skizzierung von Versuchsanordnungen.

„In der Arbeit mit Flüchtlingen spielt Raum eine zentrale Rolle“, sagt Regisseurin Adelheid Schulz. Angefangen bei der Unterbringung in Turnhallen und Zelten, wo Menschen, selbst wenn sie sich nicht vertragen, auf engstem Raum zusammenleben müssen. Der Begriff Raum habe sich in den letzten Jahren zunehmend politisiert, erklärt die bildende Künstlerin Viyki Turnbull. Es gehe um das Zusammenleben in einer Gesellschaft, um das Thema, was öffentlicher und was privater Raum ist. Und um Fragen der Abgrenzung: Was ist mein Raum, was ist dein Raum? Wieviel von meinem Raum darfst du dir nehmen?

Längerfristige Kooperation geplant

Bei der Arbeit inspirieren ließ sich das Team von Georges Perecs Schrift „Träume von Räumen“, einem Handbuch mit detaillierten Beschreibungen von Räumen der alltäglichen Lebenswelt, ob Schlafzimmer, Wohnung, Mietshaus, Straße oder Viertel. „Leben heißt, von einem Raum zum anderen gehen“, zitiert Anna Haas Perec. Es gebe keine Utopie am Ende des Theaterabends, „aber eigentlich ist das Projekt ja schon die Utopie“. Geplant ist eine längerfristige Zusammenarbeit zwischen dem „Theater.Prekariat“ und dem Staatstheater Stuttgart, die nach dem Projekt „Linien.Grenzen.Räume“ weitergeführt werden soll.

Die Abschlusspräsentation des Kooperationsprojekts „Linien.Grenzen.Räume“ beginnt am kommenden Freitag um 20 Uhr im Nord.