Klimakatastrophe im Anmarsch: Tabita Rezaires Videoinstallation „Deep Down Tidal“ führt schon einmal vor, wie die Erderwärmung den Meeresspiegel hebt. Quelle: Unbekannt

Mit dem Ausstellungsprojekt werden die riesigen denkmalgeschützten Hallen aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Thema der künstlerischen Präsentationen sind Nischen im urbanen Gefüge, Freiräume der Gemeinschaftsbildung, soziale Glücksversprechen und Utopien, aber auch Skepsis.l

EsslingenDas Ausstellungsmotto „Good Space“ ist nahezu wörtlich zu nehmen: Ein außergewöhnlicher und interessanter Raum wird im Sommer dieses Jahres Schauplatz der neuen Auflage des alle drei Jahre stattfindenden Crossing-Media-Projekts der Städtischen Galerie Esslingen. Die Hallen der ehemaligen Königlich Württembergischen Eisenbahnwerkstätten auf dem EnBW-Areal an der Esslinger Rennstraße beherbergen vom 2. Juni bis zum 1. September einen großen Teil der Schau „Good Space – Communities oder Das Versprechen von Glück“. Die denkmalgeschützte Stahlträger- und Sheddach-Konstruktion – 1890 errichtet und bis 1925 mehrfach erweitert – schlummert seit 1965 im Dornröschenschlaf des Leerstands. 2017 waren die Hallen am Tag des Denkmalschutzes für Besucher geöffnet, ansonsten herrscht dort, wo einst die fauchenden Dampfrösser hämmernd auf Zack und Zug gebracht wurden, tiefe Ruhe. Letzteres soll sich ändern: Die privaten Eigentümer, die 2016 die Hallen vom Vorbesitzer EnBW übernommen haben, werkeln an einem wirtschaftlichen Nutzungskonzept.

Nischen statt Brachen

Kultureller Auftakt könnte die Good-Space-Schau sein. Für Galerieleiter Andreas Baur verbinden die Hallen auf ideale Weise die zukunftsorientierte Ausstellung mit der Esslinger Industriegeschichte. Geht es doch bei der Crossing-Media-Triennale, die 2013 die Nachfolge der Foto-Triennale antrat, um die Ästhetik urbaner Räume: ihre Neubewertung, ihre Umnutzung, ihre soziale Perspektive und den Beitrag der Kunst als kreativer Impulsgeber. Bei der Ausstellung 2016 wurden, ebenfalls unter dem Reihentitel „Good Space“, Brachen im urbanen Gefüge und damit brachliegende Chancen erforscht. 2019 soll die Schau die „umgekehrte Perspektive“ einnehmen, erläutert Baur: jene der Nischen, in denen sich „Gemeinschaften ausformen, einrichten und Glücksversprechen entwickeln“.

Den Worten ist ein Gegensatz von Intimität und Selbstbehauptung zu entnehmen, der sich in den Exponaten und den Ausstellungsorten spiegeln wird. Denn selbstverständlich ist auch das Stammhaus, die Villa Merkel, Teil des Konzepts, ebenso der Merkel-Park, wo beispielsweise eine begehbare Fels- und Eisbergskulptur von Rob Voerman mit der Polarität von Verbindung und Abgrenzung spielt: Sie wird vom trockenen Boden in den Parkteich ragen. In der Villa wiederum ist nebst einem zentralen Treffpunkt im Oberlichtsaal der Ort jener Arbeiten, die eine gewisse Geborgenheit brauchen; etwa die dialogischen Videos von Frédéric Moser und Philippe Schwinger oder die Styropor-Skulpturengruppen der Berliner Künstlerin Lin May Saeed, die oft von Mensch-Tier-Beziehungen handeln. Eines ihrer hybriden Fabelwesen wird in Bronze gegossen und im Merkel-Park einen dauerhaften Standort bekommen.

Das riesige Areal der Eisenbahnwerkstätten mit seinen 16 000 Quadratmetern – fast dreimal so viel wie die Hamburger Deichtor-Ausstellungshallen – fordert indes eine raumgreifende Kunst der Selbstabgrenzung und der Selbstdefinition: „Sinninseln, die sich aus der Logik der Arbeiten selbst ergeben“, beschreibt Baur. Beispiel dafür sind die freistehenden, großformatigen Malerei-Module Katrin Plavcaks, die wie aus einer gigantischen Leinwand ausgeschnitten wirken und sich zu sinnstiftenden Ensembles gruppieren – eine künstlerische Ausformulierung des Community-Gedankens. Daneben, so der Galerieleiter, füllen „etliche zeitbasierte Medien, also Video- und Sound-Installationen“ die Weite der Hallen. In diesem Feld thematisiert die aus dem französischen Überseedepartement Guyana in Lateinamerika stammende Tabita Rezaire koloniale und postkoloniale Machtstrukturen mit ihren sozialen wie ökologischen Bedrohungen. Mikhail Karikis spürt den illegalen Raves von Jugendlichen nach, bringt Orte, Maskeraden und Ausdrucksformen dieser Tanzpartys in den Zwischenräumen der Städte in einen multimedialen Bezug: ein Grenzgang in die Subkultur der Gemeinschaftsstiftung und der Glücksversprechen. Beidem stehen Melanie Gilligan und die in einer Kommune aufgewachsene Julika Rudelius skeptisch gegenüber. Ihre Videoarbeiten setzen einen kritischen Kontrapunkt zur angeblichen Freiheit der Selbstverwirklichung im kapitalistischen Anything goes.

Apropos: Alles geht mangels Kapital auch bei den Esslinger Ausstellungsmachern nicht. So wird die gigantische Hallenfläche etliche Frei- und Leerräume aufweisen, denn eine komplette Bespielung gibt das Budget nicht her. Da viele der Arbeiten eigens für die Schau produziert werden, kalkuliert Baur mit Gesamtkosten von 490 000 Euro. Die Lücke zu den 263 000 Euro Eigenmitteln sollen unter anderem Zuschüsse des Landes, der Kreissparkasse und kulturfördernder Stiftungen schließen. Auch das „niederschwellige Angebot“ – sprich: die Gastronomie – ist noch nicht in trockenen Tüchern. Baur würde gerne „Food Trucks“ in die Hallen rollen lassen, weil die mobilen Verköstigungsstationen die sonst hohen Hürden der Genehmigung elegant umfahren – „und unserer Lust am Provisorischen entsprechen“. Im Rahmenprogramm fest eingeplant ist hingegen ein anderer Beitrag zum großen Thema: das Gemeinschaftserlebnis Musik. Das Podium-Festival beteiligt sich mit Klassik und Experimentellem, das Komma mit Pop.

Die Ausstellung „Good Space – Communities oder Das Versprechen von Glück“ findet statt vom 2. Juni bis 1. September 2019 in den ehemaligen Esslinger Eisenbahnwerkstätten (Rennstraße), in der Villa Merkel und dem Merkel-Park.