Trotzig in der Klapse: Hölderlin (Marcus Michalski, vorne) und das Ensemble. Foto: Patrick Pfeiffer - Patrick Pfeiffer

Der Regisseur Klaus Hemmerle befreit an der Esslinger Landesbühne Peter Weiss' "Hölderlin" von der Klassenkampf-Patina der Nach-68er-Zeit, ohne es seiner Schärfe zu berauben.

EsslingenWie war das doch mit den Weibern, die zu Hyänen werden? Nee, ist nicht Hölderlin, sondern Schiller, als er die Alarm-Glocke schlug gegen die Exzesse der Französischen Revolution und nicht zuletzt gegen die revolutionäre Beteiligung der Frauen. Doch als die sehr emanzipierte Wilhelmine Kirms dem sehr revolutionären Friedrich Hölderlin sehr nahe kommt, kriegt der zuviel. Ein Fall von Hyänen-Angst: Hölderlin, der Verklemmte. Dass auch das befreite erotische Wälzen, gar von einer Frau initiiert, eine Umwälzung sein könnte – so weit muss die Revolution denn doch nicht gehen. Und dass man als pflichtschuldiger Hauslehrer seinem Zögling auf die onanierenden Finger klopft, versteht sich von selbst. Zwischendrin zückt der Dichter das Notizbuch. Poesie statt Sex: Hölderlin, der Lachmann.

Ohne Pathos und Patina

Eine witzige, despektierliche Szene in Klaus Hemmerles Inszenierung von Peter Weiss’ „Hölderlin“ im Schauspielhaus der Esslinger Landesbühne. Im klassenkämpferischen Dichter-Drama von 1971 wird neben anderen Widersprüchen revolutionären Handelns eben auch die sexuelle Unterdrückung im Allgemeinen und die verweigerte Emanzipation der Frauen im Besonderen bedacht. Nach der Revolution beginnt für sie die Konterrevolution. Dann geht’s zurück unter den Mann, zurück auf die Matratze. Sagt Wilhelmine (Lara Haucke). Hemmerle hat zwar nicht umgekehrt die Revolution auf die Matratze gezerrt, nicht das Stück zum sexuellen Befreiungsdrama verkürzt. Aber er hat den agitatorischen Lautsprecher abgestellt. Keine Plebejer proben hier den Aufstand, Weiss’ Arbeitermassen sind gestrichen. Und der Regisseur tut gut daran. Er öffnet den Text für den heutigen Blick, indem er ihn von Pathos und Patina der 70er-Jahre-Klassenkampffolklore befreit, aber nicht seiner Schärfe beraubt: der Anklage von Ausbeutung und Kolonialismus, von Kapitalismus und Opportunismus.

Doch dem heutigen Blick, dem der Glaube an einen vernünftigen Geschichtsverlauf abhanden kam, wird revolutionäre Heilsgewissheit zum ironischen Vergangenheitszitat. Als da wäre: Weiss’ in Brecht-Manier episierender Sänger wird zum Liedermacher (Martin Theuer), zum Protestbarden mit Klampfe und Endreimen im rebellengemütlichen 70er-Stil. Am Ende pinselt er das damalige Graffiti vom Tübinger Hölderlin-Turm nach, das den wahnsinnigen Dichter in grundschwäbische Renitenz eingemeindete: „Der Hölderlin isch et verruckt gwä.“ Auch das glaubt heute kaum mehr jemand.

Hölderlin selbst ist bei Hemmerle die aus einer Reise durch die Zeiten herbeizitierte Rätselgestalt: der Tübinger Stiftler in Einheitsdress mit Landeswappen auf der Weste, der Perücke tragende Stürmer und Dränger in Hauslehrerdiensten, schließlich ein modern-bürgerlicher Angestellter in Anzug und Krawatte. Und kurz vor Wahnsinn ein maoistischer Intellektueller, der mit einer chorischen Viererbande in Mao-Kluft sein „Empedokles“-Drama einer entsetzten, wie im Kino glotzenden Zuhörerschaft vorträgt. Marcus Michalski spielt Hölderlin – diesen Zeitgeistschatten und zugleich Unzeitgemäßen, der nur in seiner Dichtung ganz dicht ist – mit phänomenalem Facettenreichtum der wechselnden Gemütszustände, vom Jovialen bis zum trotzigen Wahn.

Mit alldem verschiebt Hemmerles bilderreiche Inszenierung den Akzent zu den nach außen gestülpten Innenwelten, zu den tragikomischen Repressionen innerhalb des gehobenen Bürgertums, dessen Ehefrauen Hölderlin anhimmeln, ohne den Konventionsbruch zu wagen, deren Ehemänner auf die Jagd – nach kapitalem Wild oder Kapital – gehen, ohne die verdienten Hörner aufgesetzt zu bekommen. Es gelingt eine intime Durchleuchtung von Weiss’ ausladendem Dramentext, es gelingt auf der politischen Ebene das Kammerspiel einer Revolution, die von Anfang an nur in Gedanken stattfindet – und Thesen schmetternd in Gedanken verraten wird von Hegel und Schelling, Schiller und Goethe, die sich mit Gott und bestehender Welt und starkem Staat und ästhetischer Harmonie arrangieren. Da kommt – frei nach Hölderlin – nichts ins Offene, das Ganze spielt in einer graublauen Bibliothek: trapezförmiger Grundriss, ein Sarg des Geistes (Bühnenbild und Kostüme: Frank Chamier). Und Hölderlin schläft zu Beginn sinnigerweise im Regal, betritt dann in Unterhosen den Boden der Tübinger Stift-Wirklichkeit, wo der Besuch des Landesherrn ansteht und rebellisch aufgemischt werden soll. Hoch auf den Schultern trägt Herzog Karl Eugen seine Franziska von Hohenheim herein. Er ist ihr Reittier, sie keine Säulenheilige der Landesgeschichte, sondern eine wortlos dumme Feudalzicke auf hohem Mätressenross. Am Szenenende trägt er sie hinaus: ein feiner Fingerzeig Hemmerles, dass die Geschlechterunterordnung wiederhergestellt ist – und in bürgerlichen Zeiten fortdauert.

Hinter Glas

Hinten in der Bibliothek steht eine Plexiglaswand: Objekt der Begrenzung, durchsichtig, aber nicht durchlässig. Sie wird zur Trennscheibe zwischen Hölderlin und seiner idealisierten Diotima, der realen Bankiersgattin Susette Gontard (stark: Kristin Göpfert, die in stimmiger Personalunion auch Charlotte von Kalb spielt, jene erste Dichter-Verehrerin). Man schmiegt sich an, aber man kommt nicht zueinander. Zuletzt aber schließt sich das Plexiglas zum Gefängnis, dem Turm, in dem der wahnsinnige Dichter wie in einer Vitrine hockt.

Seinen Weg säumt ein ausnahmslos fulminantes Ensemble, wie Göpfert plausibel besetzt in wechselnden Rollen: Oliver Moumouris gibt Hölderlin-Widerparts vom Herzog bis zu Goethe autoritäre Arroganz, Florian Stamm führt einen so servilen wie gedankenbrutalen Hegel vor, Karlheinz Schmitt zeigt bürgerliche Knitter- und Ehemänner, ebenso in klugem (Dialekt-)Kontrast die Hölderlin-Anhänger jenseits des Bildungsbürgertums, den Glaser Wagner und den Schreiner Zimmer. Lucijan Gudelj ist der Radikal-Revoluzzer Schmid, der aus lauter Verzweiflung zum Rekruten gegen Napoleon wird. Auf demselben hohen Niveau agieren die Schauspielstudenten Claus Becker als pastoraler Schelling (wie alle anderen spielt er noch weitere als die genannten Rollen), Kim Patrick Biele als hagerer Schiller, Lily Josephin Frank als jugendfrische Christiane Zimmer, Hölderlins letzte Vertraute und Sehnsuchtsimagination im Turm, und Maria Joao Kreth D’Orey als Revolutionär und späterer Diplomat Sinclair, der sich an einem Staatsstreich versucht.

Der scheitert, doch die Darstellerin kehrt wieder: als travestierter Karl Marx mit schwarzem Frack, Zylinder und blondem Schopf – bei Weiss Hölderlins letzter Besucher im Turm, bei Hemmerle zudem eine zwiespältige Figur, Revolutionstheoretiker und Todesbote in einem. Als Hölderlin-Versteher gibt er dem Dichter einen letzten Schub, stellt noch einmal die Zeichen auf Aufbruch. Das gläserne Gefängnis wird zum wirbelnden Karussell, aber es ist das Aufbäumen vor dem Exitus. Hölderlin stirbt. Was bleibt? Die grandiose Verlebendigung eines scheintoten Stücks – und der Frage die es aufwirft: Was rettet das Elend der Welt, wenn nicht – oder nicht mehr – die Revolution?

Weitere Vorstellungen: 18. Januar, 13. und 22. Februar, 13. und 27. März, 3. und 21. April, 24. Juni.