Hans-Christoph Rademann (rechts), Werner Güra (Mitte hinten) und das JSB-Ensemble beim Eröffnungskonzert in der Stiftskirche. Foto: H. Schneider Quelle: Unbekannt

Von Thomas Krazeisen

Stuttgart -Auch wenn in der Stuttgarter Stiftskirche am Ende nicht das wohlvertraute „lieb Engelein“ auftauchte, um die gepeinigten Menschenseelen zur ewigen Ruhe in Abrahams Schoß zu betten, so ward’s doch ein bisweilen himmlisch schönes Hörvergnügen: Zum Auftakt des Musikfests kam am Donnerstagabend in der Stuttgarter Stiftskirche Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion in der Leitung von Hans-Christoph Rademann zur Aufführung - und zwar nicht in der üblicherweise erklingenden Version mit dem erwähnten eingängigen Finale, sondern in der früheren, genauer gesagt: der zweiten Fassung der Johannes-Passion aus dem Jahr 1725. Bach hatte 1723 die Stelle als Leipziger Thomaskantor angetreten, an Karfreitag des darauffolgenden Jahres erklang dann in der Nikolaikirche erstmals die Johannes-Passion. Anders als in der späteren Matthäus-Passion sollte sich Bach an jener praktisch bis zu seinem Tod abarbeiten. Das Ergebnis dieser mehr als ein Vierteljahrhundert andauernden Beschäftigung mit dem johanneischen Bibeltext über das Leiden und Sterben Jesu ist mit vier Passions-Fassungen eine der faszinierendsten und zugleich kompliziertesten Hervorbringungen des oratorischen Repertoires. Faszinierend auch deshalb, weil die wechselvolle Bearbeitungs- und Rezeptionsgeschichte dieses offensichtlich auch theologisch für Bach bedeutenden Passionswerkes als eines work in progress gewissermaßen von selbst eine immer wieder aufs Neue zu erfolgende Selbstvergewisserung im Lichte der je eigenen Zeit nahelegt.

Experimentierfreudiger Kantor

Bachs musikalische Experimentierfreude und dramaturgische Offenheit hatte durch Streichungen und Ergänzungen von Noten und Texten in der Johannes-Passion so schon zu seinen Lebzeiten unterschiedliche Hörerlebnisse beschert. Mag die vierte Version sich auch aufführungspraktisch als die sozusagen kanonische durchgesetzt haben, so beglaubigten jetzt Akademieleiter Hans-Christoph Rademann und sein Junges Stuttgarter Bach-Ensemble eindrücklich, dass die eher selten musizierte Variante von 1725 die heute vielleicht existenziell triftigeren, theologisch gewichtigeren und als Passions- wie als Psychodrama die schlüssigeren Lösungen bereithält. Das liegt vor allem auch an den gegenüber der Uraufführung markant veränderten Ecksätzen. Eine merkliche Akzentverschiebung weg von der in allem Schmerz und Leiden dominierenden Verherrlichung des Herrn und Herrschers hin zu einer nachdenklicheren Reflexion des Opfertodes Jesu findet bereits im neuen Eingangschoral „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ statt. In der Matthäus-Passion begegnet er am Ende des ersten Teils in leuchtendem E-Dur wieder. Hier hingegen prägt ein düster verhangener Ton das Opfertod-Tableau bis ins Finale mit Martin Luthers Agnus-Dei-Übersetzung „Christe, du Lamm Gottes“ in einer demütigen Meditation über den Erlöser, der eine eigentlich unerträgliche Last zu tragen hat. Dieses Passions-Update klingt wahrlich nicht mehr so souverän johanneisch und sehr viel verhaltener als noch der freudvoll-zuversichtliche Schlusschoral der ersten Version - und trifft doch möglicherweise gerade so viel eher die momentane Gestimmtheit einer von Aporien und Ängsten geplagten Welt: Mit der schlichten Schluss-Bitte um Frieden im Ohr verlässt man die Stiftskirche, wo einen wenige Meter vom Eingang entfernt Polizei und Betonbarrieren am Eingang des Weindorfs die Dringlichkeit dieser Botschaft vor Augen führen.

Überragender Evangelist

Auch wenn es hier und da noch Wackler zwischen Chor und Orchester zu verzeichnen gibt und die dramatische Balance der Vokalisten noch besser austariert werden kann, präsentieren die JSB-Nachwuchssänger- und -musiker aus 20 Ländern eine berührende, spannende und psychologisch stringent gestaltete Klangerzählung dieser aufwühlenden Johannes-Passion. Werner Güra besticht als Evangelist mit deklamatorischer Präsenz und enorm biegsamem, noch in der fast atemlosen Ekstase klangschönem Tenor. Und auch die Nachwuchssänger bringen bemerkenswerte Leistungen, zumal die Tenöre Florian Sievers und Ronan Caillet bei den in dieser Passions-Fassung neu eingefügten, anspruchsvollen Arien „Zerschmettert mich, ihr Felsen“ und „Ach windet euch nicht so“. Eine lyrische Wucht schließlich die Sopranistin Viola Blache mit ihrem betörenden „Zerfließe, mein Herze“.

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