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Von Petra Bail
Istanbul - Istanbul ist lärmend, eine sich permanent ausdehnende Mega-City mit inzwischen 16 Millionen Einwohnern. Trotzdem funktioniert Europas östlichste Weltstadt. Dieser Megasound an der Grenze zwischen Europa und Asien empfängt den Besucher der 10. Internationalen Istanbul Biennale, die seit 20 Jahren Kunstschaffende aller Nationen in architektonisch ungewöhnlichen Stadträumen präsentiert. Zum Jubiläum zeigen 96 Künstler und Gruppen aus 35 Ländern ihre Interpretation des Mottos „Optimism in the Age of Global War“.
Höllische Geräuschkulisse
Erwartungsgemäß wirkt die gigantische Schau des chinesischen Kurators Hou Hanru vielmehr apokalyptisch denn optimistisch.Trotz demonstrativer Endzeitstimmung der vielzähligen Videos und Installationen samt der wenigen Bilder hängt auch etwas Positives in der dicken Luft der verfallenden Lagerhalle Antrepo am Hafen, dem diesjährigen Hauptausstellungsort der Biennale. Mag sein, dass die lila Neonschrift „I believe in angels“ des chinesischen Künstlers Yang Jiechang mildern soll, was einem im Innern der diesmal energisch entrümpelten Halle höllisch anspringt.
Im Eingang erschlägt die Geräuschkulisse, eine Kakophonie von Stimmen, Tonfolgen und Geisterbahnschreien: ein Rummelplatz der Emotionen. Man weiß nicht, soll man sich nach links wenden zur Videoinstallation des amerikanisch-kubanischen Duos Allora & Calzadilla, die eine mysteriöse Fahrradtour durch die verkehrskollapierenden Straßen Istanbuls zeigt, oder nach rechts. Dort lässt der Koreaner Gimhongsok die Nationalhymnen der G-8-Staaten trällern.
Die wegweisende Arbeit der dezidiert politischen und immer noch wohltuend unangepassten Bosporusschau ist das meterlange Breitbandbild „The Last Riot“ der Moskauer Künstlergruppe AES+F. Die wilde Fantasielandschaft einer neuen Epoche zeigt eine mutierte Welt, in der die Zeit eingefroren ist. In plastischer Schönheit stehen die engelsgleichen, unschuldigen Gesichter von Kinder und Jugendlichen in Tarnanzügen im krassen Gegensatz zu ihrem bestialischen Tun. Sie metzeln sich gegenseitig und ihre Stofftiere nieder. Die Protagonisten des neuen Zeitalters sind Täter und Opfer gleichzeitig. Sie haben nur eine Identität, sie sind Teilnehmer des „Letzten Aufstands“, der wie ein kriegerisches Computerspiel wirkt. Dies computeranimierte Welt aus Fotografien zelebriert das Ende jeglicher Ideologie, Geschichte und Ethik. Von Optimismus keine Spur. Auf dieses bedrohliche Endzeitszenario zeigt die Spitze einer monströsen Rakete, die sich bei genauerem Untersuchen hinter kalligraphisch bemalten traditionellen Gebetstüchern als eines der vier Minarette der Hagia Sophia entpuppt. Deutlicher könnte der Kontrast nicht sein. Entgegen dem ersten Anschein will der Chinese Huang Yoong Ping anhand der Historie einen friedlichen Glaubenstransfer demonstrieren. Die Hagia Sophia war 916 Jahre lang christliche Kirche und ist seit 481 Jahren, ohne Abriss und Zerstörung, islamische Moschee. In der zweiten Raumebene befindet sich das „Dream House“, ein Kunstloft als Lounge zum Entspannen in einer Stadt, die niemals schläft. Sam Samores benutzbares „Magic Bed“ ist ein Zufluchtsort für all jene, die das pulsierende Clubleben über den Flachdächern am Bosporus ausgekostet haben.
Ortswechsel: Das IMC ist ein Einkaufszentrum aus den Sechzigerjahren, in dem sechs hässliche Betonblocks einen Mikrokosmos von 1000 kleinen Läden verbergen, in denen tief verschleierte Türkinnen ihren täglichen Bedarf decken. Wer es hierher geschafft hat, sieht sich einem Labyrinth ausgeliefert, durch das keiner der muslimischen Handwerker, Schneider und Verkäufer den Weg zeigen kann. Kommunikationsproblem im „World Factory“, so der Titel der Außenstelle, wo in einem winzigen Ladenlokal neun Videoinstallationen gleichzeitig gezeigt werden. Man ist erschlagen von den unzähligen Videodokumentationen, die die Phänomene der Globalisierung mit Landraub, Urbanisierung, Industrialisierung und sozialen Konflikten teils ausufernd lang thematisieren. Im Kopf bleibt das „Davida“-Projekt des Slowenen Tadej Pogacar. Die Braut ist geschmückt mit einer Kette aus Kondomen brasilianischer Prostituierter, die ein Designerlabel kreiert haben, um aus dem Erlös Ausbildung, Gesundheitsversorgung und Aids-Prävention zu finanzieren. Selbst Mick Jagger trug bei seinem Rio-Konzert ein T-Shirt von Davida. Das ist Optimismus im Zeitalter globaler Kriege auf allen Ebenen.
Genau wie das IMC ist auch der dritte Ausstellungsort vom Abriss bedroht. Die 1200 Quadratmeter große Atatürk-Kunsthalle ist ein monströs-düsteres Bauwerk mit dem Charme sozialistischer Architektur aus den Siebzigerjahren. Der Türke Erdem Helcacioglu füllt den haushohen Raum mit der rauschenden Soundinstallation „Memories on Silent walls“. Die Wände werfen echogleich den Soundbrei zurück, den der Künstler in und um das Gebäude herum aufgenommen hat.
Verlassen, verloren
Verlorene oder verlassene Räume sind die Verbindung zwischen den Fotos der Geisterstadt des Armeniers Vaghram Aghasyan und den leeren Bildern vom inzwischen längst abgerissenen Hotel Rossija in Moskau des Österreichers Markus Krottendorfer. Das alles ist genauso bedrückend wie Nancy Davenports wohlgefällige Bilder und Video eines entvölkerten Campus’. Ein Lichtblick im vielstimmigen Chaos ist die stimmige Bild- und Tonkomposition des Russen Aleksander Kamarow. Die Transparenz des Berliner Reichstags korrespondiert mit der Rotterdamer Van Nelle Fabrik, einem der renommierten Industriebauten des 20. Jahrhunderts, und steht im Kontrast zum Ausstellungsort. Die zufällige Probe eines türkischen Chors, der das deutschen Volkslied „Muss i denn zum Städtele hinaus“ inmitten dieser bedeutungsschwangeren Kunstszene intoniert, symbolisiert am deutlichsten Istanbuls Schlüsselfunktion in einer globalisierten, krisengebeutelten und kriegsgefährdeten Welt. Optimismus ist nicht nur möglich, sondern angebracht in dieser kritischen Selbstreflexion, die die Biennale seit 20 Jahren möglich macht. Immerhin bestückten Künstler mit internationalem Renommee wie Sol LeWitt, Rachel Whiteread und Nam June Paik, Rosemarie Trockel, Louise Bourgois und Pipilotti Rist die Schau, die inzwischen zu den bedeutendsten in Europa zählt.
Bis 8. November.
www.iksv.org/bienal
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