Der Künstler und sein Überwacher: Oliver Moumouris (vorne links) als Max Ludwig Nansen und Christian A. Koch als Polizist Jens Ole Jepsen. Foto: Patrick Pfeiffer - Patrick Pfeiffer

Aktueller kann es fast gar nicht sein. Siegfried Lenz’ Roman „Deutschstunde“ kommt auf die Esslinger Landesbühne.

EsslingenMit seiner „Deutschstunde“ landete Siegfried Lenz 1968 einen Bestseller. Bis heute ist der Roman über zwei Millionen Mal verkauft worden. Die Geschichte des 20-jährigen Siggi Jepsen, der in der Arrestzelle einer Erziehungsanstalt manisch Heft für Heft vollschreibt, um die Gespenster der Vergangenheit zu bändigen, brachte es sogar zur Schullektüre. Siggi erinnert sich beim Schreiben an die ihn traumatisierende, mehr oder weniger stille Auseinandersetzung, die sein pflichtversessener Vater – nördlichster Polizeiposten im Nazi-Reich – mit dem „unerwünschten“ Maler Nansen austrug, über den das Malverbot verhängt worden war. Das überwachte der Polizist mit vollem Einsatz, Sohn Siggi setzte er als Spitzel ein. Dass mit diesem Maler Emil Nolde gemeint war, der seine Biographie in der Nachkriegszeit schön weiß gepinselt hatte in Richtung Opferstatus, brachte Lenz den Vorwurf ein, an dieser Legende mitgearbeitet zu haben. Denn eigentlich – das hat nicht erst die diesjährige Berliner Nolde-Ausstellung bewiesen – war der Künstler selbst Antisemit und glühender Nazi.

Dass „Deutschstunde“ von Christian Schwochow nun erstmals fürs Kino verfilmt und just am symbolischen 3. Oktober gestartet wurde, zeigt die Aktualität und Zeitlosigkeit des Stoffes. Denn es geht vor allem um das Thema Pflichtversessenheit und persönliche Verantwortung in einer Diktatur. In Zeiten von Mordanschlägen auf Migranten und Juden, von unerträglichen Verschiebungen hin zu einer politischen Unkultur – ob es sich um eine öffentliche Totenfeier für einen Neo-Nazi oder provokant verwendetes Nazi-Vokabular in Höcke-Reden handelt – hat die „Deutschstunde“ Kritisches zu sagen, findet man auch an der Esslinger Landesbühne (WLB), wo eine Dramatisierung des Roman am Samstag Premiere hat.

Wenn man einen 600-Seiten-Roman auf die Bühne bringen wolle, so die Regisseurin Laura Tetzlaff, die auch die Theaterfassung geschrieben hat, müsse man sich erst einmal fragen, was man erzählen möchte. Ihr geht es vor allem um den Grundkonflikt zwischen Siggis Vater und dem Maler, „um zwei Egomanen, die sich verrennen“, was am Ende zur Zerstörung zweier Familien führe. Der Roman zeige, wie wichtig Erinnerungsarbeit sei. Sich der Vergangenheit zu stellen sei nötig, um die Gegenwart zu verstehen. Die Aktualität des Stoffes liege auf der Hand, sagt Tetzlaff, gerade was die ideologische Diskreditierung von Künstlern und Künstlerinnen angehe. Sei verweist auf die im vergangenen Juni gestellte Anfrage der AfD im Stuttgarter Landtag nach der Nationalität der Künstler und Künstlerinnen der Staatstheater des Landes. Es gehe um den Faschismus im Alltag, wenn etwa Siggis Mutter Reden schwinge über das „Lebensrecht behinderter Kinder“ oder die „Entartung von Kunst“ und alles lapidar abgetan werde mit Sprüchen wie „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“.

Vom Personal des Buches stehen in der Bühnenadaption vor allem die beiden Familien Jepsen und Nansen im Fokus. Die Zeitebenen, Rückblick und Gegenwart, werden durch die Figur Siggi deutlich gemacht, der einerseits als Erzähler fungiert, andererseits in die Szenen „hineinspringt“ und mitspielt. Die Nolde-Frage indes wird in Esslingen außen vor bleiben. Der Intendant und Dramaturg Marcus Grube sieht den Roman als Parabel: „Dieser Vater würde jedem System dienen. Dass es gerade die NS-Zeit ist, in der er Befehle ausführt, ist Zufall.“

Die Premiere beginnt an diesem Samstag um 19.30 Uhr im Esslinger Schauspielhaus. Die nächsten Vorstellungen folgen am 24. Oktober, 10., 15. und 26. November, 18. und 21. Dezember, 10. Januar, 19. und 28. Februar, 4. April.