Die üblichen Konzertrituale werden aufgebrochen: „Transit 6b“ im Bartok-Saal der Donauhallen. Foto: Donaueschinger Musiktage Quelle: Unbekannt

Von Dietholf Zerweck

Donaueschingen - Ein Lastwagen kommt rückwärts in den Bartók-Saal hereingefahren, wird mit einigem Vor und Zurück in die Position manövriert, bei der das Publikum von den hölzernen Tribünenstufen auf die Ladeklappe blickt. Von drinnen tönen Quietschlaute, man könnte an unterdrückte Schreie von Schleuser-Migranten denken. Doch es ist der Beginn von Michael von Biels 1963 komponiertem zweiten Streichquartett, hier durch den Luftschlitz der Lastwagen-Rückseite dringend. Das Stück, ein Vorläufer feinst austarierter Geräuschmusik vom Typus Helmut Lachenmanns, ist nur fünf Minuten lang - hier wird es auf das Dreifache gedehnt, mit Pausen dazwischen. Die unsichtbare Musikerhandlung ist der Beginn eines von Laurent Chétouane inszenierten Konzerts mit dem Titel „Transit“, welches ein Anliegen des Donaueschinger Neue-Musik-Festivals realisiert: das Aufbrechen üblicher Konzertrituale und Experimentieren mit performativen Darstellungsformen.

Wenn sich die Ladeklappe öffnet, steigen 14 Musikerinnen und Musiker - zum Teil mit Parkas und Wollmützen, als kämen sie aus der Kälte - aus dem Lastwagen, mustern die Zuschauer mit leeren oder überraschten Blicken, packen ihre Instrumentenkästen aus. Das dauert. Endlich stehen sie aneinander gelehnt in einer Diagonale, die Uraufführung der „Memory spaces (appearances)“ von Chiyoko Szlavnics kann beginnen. Die mikrotonal gespreizten, harmonisch sich verändernden Intervalle mit vielen Obertönen wirken irgendwie anheimelnd, danach lösen sich die Spieler aus ihrer Trance, finden allmählich ihre Plätze im aufgestellten Stuhlkreis.

Das Publikum darf mitspielen

Es folgt Dmitri Kourliandskis „Maps of non-existent cities: Donaueschingen“ als video-begleitetes Ensemblestück und unfreiwillige Mitmachaktion fürs Publikum. Mit den Geigen, Bratschen, Celli und Kontrabässen wird die Tribüne geentert, das Publikum - ein Teil bleibt sitzen - auf die Spielfläche bugsiert. Der musikalische Wert des 20-Minnten-Stücks ist bescheiden. Bei Sebastian Clarens „Kaleidoskopvillemusik II“ schließlich ist man flanierend zwischen den Musikern Teil der Performance: ein von den Zuhörern überwiegend gutwillig goutiertes Kontrastprogramm.

In den im Programmbuch abgedruckten Manifesten ist viel von „Verständlichkeit, Zugänglichkeit, Popularität“ die Rede, wodurch die Neue Musik eine breitere Publikumsresonanz finden müsse. Im Eröffnungskonzert am Freitagabend lieferte Thomas Meadowcrofts „The News in Music (Tabloid Lament)“ die Probe aufs Exempel: ein üppig bestücktes SWR Symphonieorchester mit einem Mix aus Bonanza, Star Wars und anderen griffigen Filmmusikzitaten, dazu Einspielung von Nachrichtensendungen über Events und Katastrophen. Das CNN-Format und dessen ironische Intention durch den australischen Komponisten bleiben stromlinienförmig unreflektiert. „Bullshit!“ ruft jemand aus dem Publikum, die Buhs sind heftig.

Oyvind Torvunds „Archaic Jam“ collagiert zerschredderten Wagner und Strauss in Lohengrinouvertürenlänge mit kratzigen Elektronik-Samples. Mickey-Mousing macht sich lustig über Orchesterpathos und umgekehrt. Gegenüber solch absehbaren Konzepten waren Bernhard Langs jazzige „DW28 Loops“ mit dem exzellenten Bassklarinettisten Gareth Davies und Andreas Dohmens „a doppio movimento“ für E-Gitarre, Harfe, Klavier und großes Orchester unter der Leitung von Ilan Volkov erfrischend komplexe und dynamische Grenzerfahrungen zwischen New Music und Advanced Pop.

Strategien, sagt Björn Gottstein, der künstlerische Leiter der Donaueschinger Musiktage, werden von ihm nicht vorgegeben bei der Programmplanung, doch Trends liegen quasi in der Luft. Zum Beispiel der Anteil der Digitalisierung an der Musikproduktion, die nicht nur im Container-Sixpack des Ictus Ensembles vor den Donauhallen sich im Paradigma des isoliert technisch aufgerüsteten Musikers präsentierte. Der Performance-Aspekt machte dessen Konzert im Strawinsky-Saal zur unterhaltsamen Instrumentalartisten-Show: Erst ereiferte sich der Flötist Michael Schmid in Francesca Verunellis „Man sitting at the piano“ mit einem mechanischen Klavier um die Wette, dann reagierten die Musiker an acht Tablets nebeneinander auf Zurufe wie „Eule“, „Fahrrad“, „Feuerwerk“ mit Tröten, Klingeln und traditionellen Instrumenten. Bei Martin Schüttlers „My mother was a piano teacher“ blätterten zwei SWR-Moderatorinnen die Biographien der Musiker auf, derweil diese, als „Fernensemble“ per Video mit Porträtfotos zugeschaltet, den spezifischen Instrumentensound beisteuerten. Von den im Programm fest verankerten Klanginstallationen war Werner Cees „Sol y Sombra“ im lokal beschallten Schlosspark als Collage von gesampelten Natur-, Politik- und nostalgischen Woodstock-Anklängen eindrucksvoll. Die „Donaueschingen Lecture“ des Musikprofessors, Komponisten und früheren Jazzposaunisten George Lewis handelte von „Creolity“ und „Intersectionality“ als anzugehender Symbiose von geografischen, ethnischen und stilstischen Genres und Traditionen in der Neuen Musik.

Dass Donaueschingen neben Experimentellem (20 Uraufführungen) auch Hochkarätiges, Begeisterndes zu bieten hat, wurde in zwei Werken evident. Das Auftaktkonzert am Freitag war dem portugiesischen Komponisten Emmanuel Nunes (1931-2012) gewidmet. Mit der Aura der Feierlichkeit des „Minnesang“ zu Texten von Jakob Böhme, in der das hebräische Gotteswort „Adonai“ zwischen diatonischem Dreiklang und rhythmischer Erregung wetterleuchtete, tat sich das SWR Vokalensemble im akustisch nüchternen Mozartsaal etwas schwer. Doch die Aufführung von „Un calendrier révolu“ durch das von Emilio Pomàrico geleitete Remix Ensemble wurde zum überwältigenden Epitaph für den großen Portugiesen. Schon 1968 komponiert, kurz vor seinem Tod zur Veröffentlichung freigegeben und erst jetzt uraufgeführt, ist das Werk, von magischen Klängen von Röhrenglocken, Harfe, Celesta, Xylophon eingeleitet, wie eine Summe instrumentaler Ausdrucksmöglichkeiten Neuer Musik jenseits aller atonalen Doktrin: Drei Streicher, vier Holzbläser, Klavier, Synthesizer und drei Perkussionisten kommunizieren über eine Stunde lang in zyklischem Wechsel auf beglückende, komplexeste Art miteinander.

Tags darauf vollbrachte die amerikanische Avantgarde-Pianistin Margaret Leng Tan dreimal Außerordentliches: George Crumbs Klavierzyklus „Metamorphoses, Book 1“, den sie im Mai dieses Jahres in Washington D.C. uraufführte, zeigt sich nach dem Vorbild von Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ von Gemälde-Ikonen der Klassischen Moderne inspiriert: Gauguin, Kandinsky, Klee, Dalí und andere werden mit ihren Bildern expressiv aufgeladen. Mit Klavier, Rhythmusinstrumenten und ihrer Stimme gab Leng Tan jedem Stück dichteste Atmosphäre: bei van Goghs „Kornfeld mit Krähen“ den Laut des Todesvogels, bei Chagalls „Nächtlichen Akrobaten“ mit Clowns-Nase und Spielzeugklavier die Melancholie des Blues.

Der in Halle geborene bildende Künstler Olaf Nicolai (55) hat gestern bei den Donaueschinger Musiktagen für sein Hörwerk „In the woods there is a bird ...“ den vom SWR gestifteten Karl-Sczuka-Preis 2017 für Hörspiel als Radiokunst erhalten. Die Auszeichnung ist mit 12 500 Euro dotiert.