Der Böse ist der stigmatisierte Leidensmann: Ulf Deutscher als Kaspar (links) mit Choristen und Eberhard Boeck als Fürst Ottokar (sitzend) sowie Florian Stamm als Max (ganz rechts). Foto: Patrick Pfeiffer - Patrick Pfeiffer

Marcel Keller inszeniert an der Esslinger Landesbühne die Uraufführung von Carsten Golbecks „Freischütz“-Fassung nach der Oper Carl Maria von Webers.

EsslingenSeltsame Destillierkolben, Auspuffe, Trompetenmundstücke, Miniatur-Stalinorgeln haben die Herren da an ihren (Feuer-)Rohren. Wenn sich der mit sehr männlichen Schnauzbärten gezierten Jäger-Kameradschaft solche Gewehre aufrichten, ergibt das schon ein äußerst potentes Bild. Klar, wenn einem dann noch der „Probeschuss“ den Job fürs Ego und zugleich die Braut fürs Bett bringt, ist das Freud pur. Und beim Regisseur Marcel Keller auch die pure Freude. Aber beileibe nicht nur. „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber, diese aus biedermeierlichen Wunsch- und Horrorvorstellungen verdichtete Oper von 1821, ein vorweggenommener Heimatfilm, ist nun mal eine reiche Fundgrube für allerlei Phallus- und Deflorations- und sonstige Symbolik aus dem irrlichternden Reich verdrängt-verdruckster Sexualität. In Kellers Inszenierung an der Esslinger Landesbühne wird das in dezenter Anzüglichkeit freundlich apportiert. Ein paar Kilometer weiter, im Stuttgarter Opernhaus, macht Achim Freyers Uralt-Inszenierung ein ganzes Regiekonzept daraus: Erstmals vor 38 Jahren hat Freyer das Stück auf die Couch gelegt, den satanischen Wolfsschlucht-Hokuspokus als sexuelle Projektion aus Folklore-Mief und Stuben-Muff gedeutet.

Die andere Seite der Wahrheit

Aber das ist nur die halbe Seite der kritischen Wahrheit. Die andere erzählt Keller im Esslinger Schauspielhaus, mit der Uraufführung von Carsten Golbecks Schauspielfassung frei nach der Oper. Denn die Blumen des Bösen wurzeln nicht nur in verdrängter Sexualität, sondern im Tod. Und der wütet in Gestalt des zu Ende gehenden Dreißigjährigen Kriegs – in der Oper kaum mehr als eine Zeitangabe, bei Keller zentraler Hinter- und Motivationsgrund des Geschehens und vor allem des Teufelsbündlers Kaspar. Ihm gehört das erste Wort: eine Anklage gegen die ach so reine Agathe, die er einst begehrte und die sich mit ihm eingelassen hatte, und gegen deren Vater, den Erbförster Kuno, der ihn wegen der verbotenen Liaison in den mörderischen Krieg schickte. Womit sich der Kreis von Sexualität und Tod zwingend schließt.

Der Krieg war für Kaspar brutale Lernerfahrung („Wen du nicht tötest, der tötet dich“) und im mehrfachen Seitenwechsel erreichtes Lernziel: Überleben um jeden Preis, auch wenn einem der Satan aus der Bredouille hilft. So kam er zu jenen Freikugeln, die sechs Mal treffen, die beim siebten Mal der Teufel lenkt – und die nun just dem armen Max trefflich zupass kämen. Muss der so gar nicht waffentaugliche Schreibtischhocker doch um einen erfolgreichen Probeschuss und damit um seine geliebte Agathe samt Erbförsterei bangen. Keller zeigt exakt, wie und warum Kaspar den Bräutigam in Nöten anfixt und in die Fänge des Bösen treibt: nicht nur aus Hass auf den Rivalen und die Ex, sondern aus Rache für sein zerstörtes Leben.

Ähnlich wie Freyer hat Keller das Feld-, Wald- und Wolfsschlucht-Stück nicht parodiert, sondern findet eine Balance von drallem Humor und tieferer Bedeutung. Das eigene Bühnenbild des Regisseurs türmt Mobiliar zu einer Försterei-Trutzburg, krude zusammengenagelt und von Vegetation überwuchert, damit ebenso kriegsversehrt wie die umgebende Landschaft, wo immer wieder der feuerrote Schein der Verheerung aufleuchtet. Zugleich ist die Inszenierung ein Fest für die Kostümbildnerin Katrin Busching und ihre groteske Figurenparade. Die freilich im Fall Kaspars nicht nur lustig ist: Mit Augenklappe, Pelzbesatz an der Jacke und nietengestähltem Lendenschutz spielt Ulf Deutscher einen fulminanten Finsterling, getrieben vom Unrecht, das er erlitt, und der Angst vor dem endgültigen Untergang. Florian Stamm als Max zeigt unter Kupferdächle-Schopf den Schöngeist mit Ladehemmung: nicht als Lachnummer, sondern durchaus einfühlsam. Ralph Hönickes Erbförster Kuno ist ein Monstrum mit Rübezahl-Bart und Stielauge auf der Gletscherbrille, Antonio Lallo ein stämmig-renitenter Bauer Kilian.

Und die Musik? Hat Bernd Feuchtner auf Kammerformat gebracht und Edgar Müller-Lechermann für seine Live-Trachtencombo mit ihm am Klavier, Eckhart Fischer am Kontrabass und Helmut Kipp am Schlagzeug arrangiert – leider akustisch ungünstig im Bühnenhintergrund platziert. Aus den Arien werden gleichsam Weill’sche „Dreigroschen“-Songs, angemessen interpretiert, mit stilbrechendem Schwenk in die Opern-Surrealität freilich von Sandra Hartmann als Agathe – nebst den wackeren, klanggewaltigen fünf Chorherren von der Stuttgarter Musikhochschule die einzige Profi-Sängerin. Sie singt mit viel Vibrato und einschlägig „opernhaften“ Gesten (da darf noch etwas nachgebessert werden), aber schauspielerisch macht sie ihre Sache gut. Dass sie überhaupt aus dem Ensemble herausgehoben ist, hat seinen dramaturgischen Sinn: In die Wolfsschlucht verabschiedet sich ihr Max zwar noch mit den unvergänglichen Worten „Warte nicht auf mich. Es wird spät.“ Und am Ort des Grauens halluziniert er dann allerlei zeternde Agathe-Spukgestalten, eine riesige Stabpuppe inklusive. Im Finale aber gibt Agathe keineswegs das Heimchen und Täubchen. Vielmehr ist sie es (und kein frommer Eremit wie bei Weber), die einem allerdings nicht altersweisen, sondern senil vertrottelten Fürsten Ottokar (Eberhard Boeck) Emanzipatorisches ins schwerhörige Ohr einbläst: die Abschaffung des Probeschuss-Rituals. Der Schlusschor geht dann vollends ins Protest-Skandieren über. Klingt wie „Make Love, not War“ – plakativ, aber ebenfalls unvergänglich. Nur Kaspar schleicht von der Bühne: ein im doppelten Sinn stigmatisierter Leidensmann. Er, der „Böse“, trägt die Wundmale Christi an den Händen. Doch halt: Stephanie Biesolts kesses Ännchen eilt ihm nach. Make Love... Großer Applaus für eine Inszenierung, die neben (und hinter) witzigen Einfällen ein subtiles Netz an nachdenkenswerten Aspekten knüpft.

Die nächsten Vorstellungen: 15. März, 10., 15. und 27. April.