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Der Blick auf den Vesuv ist für mich eine Katastrophe, weil ihn schon so viele Millionen, möglicherweise Milliarden geworfen haben. Thomas Bernhard
Die rund 30 Kilometer westlich von Neapel liegende Solfatara ist Teil der Phlegräischen Felder, wie die griechischen Siedler diese „brennende“ vulkanische Hügellandschaft nannten. Es ist eine mythische Erde: So galt in ferner Zeit der Avernersee im Krater eines erloschenen Vulkans als Eingang zur Unterwelt, durch den bei Vergil Äneas zu den Toten hinabsteigt. Und tief unter der Solfatara liegt, nach mythischer Überlieferung, die Behausung des römischen Feuergotts Vulkan. Es ist auch eine schwankende, in langsamen Zeitrhythmen sich hebende und senkende Erde, gut genug aber auch für Überraschungen: So ist der Monte Nuovo, der neue Berg, im Jahre 1538 binnen 24 Stunden zu einer Höhe von 140 Metern angewachsen. Bradysismus (griechisch: langsame Bewegung) wird dieses geologische Phänomen einer auf Anhebung und Senkung von Magmamassen zurückgeführten Erdbewegung genannt. Der Druck der afrikanischen gegen die europäische Erdplatte setzt zwischen Neapel und Sizilien gewaltige Energien frei, die sich ihre Ventile geschaffen haben. Sie heißen Ätna, Stromboli, Vulcano, Vesuv und Solfatara.
Furchtbar und fruchtbar
Dass das Furchtbare regelmäßig ins Fruchtbare sich wendet: Dieses Paradoxon ist auf vulkanischer Erde so gültig wie ein Naturgesetz. Nach der Phase der Heimsuchung, der Zerstörung, der Erstarrung wachsen eines fernen, postkatastrophischen Tages in der vulkanisch „gedüngten“, nährstoffreichen Erde wieder Olivenbäume, breiten sich die Weinhänge aus, auf denen die berühmten Rebsorten Greco di Tufo und Lacrimae Christi gedeihen.
Inmitten des Fruchtbaren fällt es schwer, das Furchtbare sich zu vergegenwärtigen, vor allem dann, wenn es sich zurückgezogen, sich verwandelt hat wie in Pompeji. An die Katastrophe vom 24. August des Jahres 79 nach Christus erinnert die pittoreske Ruinenlandschaft vor dem Hintergrund des verschlossenen Vulkans, erinnern „Kopien“ umgekommener Bewohner, deren Abbilder einem makabren technischen Einfall zu verdanken sind, nämlich den von den zerfallenen Körpern in der Vulkanasche zurückgelassenen Hohlraum mit Gips auszugießen. Damals wurde die 15 000 Einwohner zählende Stadt unter einer fünf bis sechs Meter hohen Schicht aus Lapilli und vulkanischen Brocken begraben. Dieser grauenvolle Aschenregen brachte den Tod - und konservierte hochkultivierte Formen römischen urbanen Lebens, welche die Ausgrabungen zutage förderten.
So faszinierend der Blick in eine weit zurückliegende Vergangenheit ist, so ambivalent ist die Erkenntnis, dass das Glück schier authentischer Teilhabe an ferner Geschichte dem Unglück anderer zu verdanken ist. Goethe, der die Ausgrabungen am 13. März 1787 besuchte, fasste diese Ambivalenz in dem - alles andere denn zynisch gemeinten - Ausspruch zusammen: „Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte. Ich weiß nicht leicht etwas Interessanteres.“
Herculaneum, ungleich näher am Fuß des Vesuv liegend als Pompeji, wird unter einer 25 Meter hohen, Balken, Türen, Möbel, Bibliotheken, ja selbst Lebensmittel versiegelnden Schicht aus feiner Asche, Steinen und Schlamm begraben. Und noch zwei Jahrzehnte danach sind, einer Beschreibung des in Neapel geborenen lateinischen Dichters Statius zufolge, die kampanischen Felder rund um den Vesuv mit einer schneeweißen Lapilli-Schicht bedeckt. Rom, die Hauptstadt des großen Reiches, war gezwungen, landwirtschaftliche Produkte und Wein, für den die Vesuv-Region berühmt war, aus dem Ausland einzuführen.
„Observatorien des Glaubens“
„Wenn der Vesuv der infernalische Ursprung jener Fata ist, die dem Land und seinen Menschen immer wieder drohen, dann gibt es zwei große Bollwerke, die, im Norden und im Süden des Teufelskessels gelegen, das Böse einzingeln, ihm Paroli bieten: Observatorien nicht der Wissenschaft, sonders des Glaubens und der Devotion. Es sind zwei der größten Wallfahrtsorte Italiens, die jährlich von Millionen von Menschen besucht werden: Madonna dell’Arco in Sant’Anastasia am Monte Somma und die Madonna del Rosario in der Ebene von Pompeji“, schreibt Dieter Richter in seinem großartigen Buch „Der Vesuv - Geschichte eines Berges“.
Nur zehn Jahre nach dem Bau der Basilika konnte die „Madonna dell‘Arco“ („Madonna unter dem Bogen“) beim großen Ausbruch vom 16. Dezember 1631 ihre Kraft demonstrieren. Tausende von Menschen hatten sich in den Klosterkomplex geflüchtet und ihr Vieh auf den umliegenden Feldern zusammengetrieben. „Die gefräßigen Flammen blieben weit von der Kirche entfernt stehen“, heißt es auf der Rückseite des Kultbildes.
Am Morgen jenes 16. Dezember wurden aus dem aufgesprengten Kegel Asche, Schlacken und Steine in die Luft geschleudert, aus den aufgerissenen Flanken des Vulkans traten Lavaströme aus, die sich bis zum Meer ergossen. Am Vormittag des 17. Dezember versetzte ein zusätzliches Ereignis von wahrhaft apokalyptischen Ausmaßen die verstörten und verängstigten Menschen in Furcht und Schrecken: Das Meer hatte sich zurückgezogen, um wenig später als wütende Wasserwalze Neapel von der Golfseite aus zu bedrohen. Inzwischen waren Flüchtlinge aus den rund um den Vesuv liegenden Ortschaften zum Teil gewaltsam in die Stadt eingedrungen - 40 000 sollen es gewesen sein, manche schweren Verletzungen.
Im Zeitalter des Barock galt der Vesuv nicht mehr als Behausung des Teufels. Jetzt vernimmt man im Brüllen des Berges den Zorn Gottes, den bußfertig zu besänftigen die Menschen in die Kirchen strömen. Trotz einer vom Erzbischof angeordneten ersten Prozession, die nach drei Stunden in der Carmine-Kirche am Marktplatz von Neapel ankommt, dauert das Wüten an: Häuser beben und zittern, „als würden Tausende von Wagen mit Eisenrädern von wilden Pferden über die Straßen gejagt“, heißt es in einer zeitgenössischen Schilderung.
Über die zweite Prozession, die am Nachmittag des 17. Dezember stattfand und an der 100 000 Menschen teilgenommen haben sollen, an der Spitze Vizekönig Don Manuel de Guzman und Erzbischof Boncompagno, berichtet der Jesuitenpater Giulio Cesare Recupito: „In das Brüllen der Erde mischten sich die Schreie der Menschen, die Gott um Gnade, Gennaro (den Stadtheiligen) um Hilfe anflehten. Aus des Berges Wimper strömten die Flammen, Tränen aus den Augen aller Menschen. Fürwahr, ein stummer und der Sprache nicht mächtiger Berg redete mit Feuerzungen, und seine Flammenrede blieb nicht ohne Frucht“. Nicht ohne Frucht blieb auch - so will es die fromme Deutung von Neapels Rettung -, dass der Erzbischof das Blut des Stadtheiligen dem brennenden Berg entgegenhält und dreimal das Zeichen des Kreuzes schlägt: „Die riesige Wolke, die drohend über dem Berg steht, löst sich auf und entfernt sich über das Meer.“
Die apokalyptische Metapher der Plage, der Strafe, die selbst noch im Zeitalter der Aufklärung wirksam blieb, ist nicht allein typisch für die Golfregion. Auch in Deutschland, wo die Nachricht über den Vesuvausbruch von 1631 in einer für damalige Begriffe kurzen Zeitspanne von vier bis fünf Wochen eintraf, sprach man von Wunderzeichen, von der „Rute Gottes“, die das sündige Kampanien züchtigt.
Anfänge der Forschung
Die Anfänge wissenschaftlicher Erforschung des vesuvianischen Vulkanismus liegen im 18. Jahrhundert, ausgelöst durch Erkenntnisse des auf hohem Niveau dilettierenden britischen Gesandten am neapolitanischen Hof, Sir William Hamilton. Sie wurden vertieft durch Beobachtungen und Messungen des Geologen Leopold von Buch und Alexander von Humboldts. Beide Forscher widerlegten die bislang gängige Theorie, derzufolge die Erde aus einem Urmeer aufgestiegen sei, das zunächst das gesamte Festland bedeckt hatte. Nach Humboldt sind Vulkane Kräfte, die „produzierend im Inneren der Erde am Werk waren“, und es sind „die geschmolzenen Massen des inneren Erdkörpers, die aus Öffnungen des Vulkans an die Oberfläche gelangen“ - sehr zum Leidwesen Goethes, der von einer Geschichte der Erde nichts wissen wollte, die zu einer „Geschichte der Katastrophen“ umgeschrieben werden musste. Von seinem ästhetischen „Bild einer allmählichen, harmonischen Entwicklung des Planeten“ nicht abrückend und hingerissen von der Schönheit der kampanischen Küste bezeichnete er den Vesuv als „häßliches Ungetüm“, sah er ihn als eine „furchtbare, ungestalte Anhäufung, die sich immer wieder selbst verzehrt und allem Schönheitsgefühl den Krieg ankündigt“. Dessen ungeachtet war Goethe auf seinen Vesuv-Besteigungen ein hochgradig aufmerksamer Beobachter und präziser Schilderer der im Krater wahrgenommenen eruptiven Vorgänge.
Empfindsame Reisen
Das 18. und 19. Jahrhundert war aber auch das Zeitalter der Empfindsamkeit und der Romantik, der Entdeckung der Natur jenseits des zivilisatorischen Blicks, der Entdeckung auch des Vesuvs, der bereits um 1700 in die „Liste lokaler Sehenswürdigkeiten“ aufgenommen wurde. Unbeeindruckt von den Erkenntnissen der Vulkanologie ließ sich der empfindsame Bildungsreisende von der Doppelnatur des meist friedlich rauchenden Berges faszinieren. Von kräftigen Bergführern an Lederriemen zum Kraterrand hinaufgezogen, gab er sich, den sicheren Abstand zur eruptiven Zone gerade noch wahrend, mit wollüstigem Schauder dem glühenden und rauchenden Naturschauspiel hin. Das Gefühl des Erhabenen, gespeist aus der Vereinigung des Schrecklichen mit dem Schönen, war der Lohn aller Mühsal. Mit Macht zog das Vulkanische an, bis man es im eigenen Inneren wahrzunehmen glaubte, und so harrte man „mit brennender Ungeduld auf eine Eruption“ . In seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ rief Nietzsche, der 1876/77 in Sorrent weilte, seinen Zeitgenossen provokant zu: „Baut eure Städte an den Vesuv“ - wie man weiß, wird dieser Aufruf in Neapels Umland noch immer befolgt, leichtfertig und illegal. „Wie ein Leitmotiv zieht sich die Lust auf die Katastrophe durch die Reiseliteratur“, schreibt Dieter Richter. Vor diesem Hintergrund fällt nicht schwer, eine Kohärenz zu konstruieren zwischen einem geologischen und einem seelischen Vulkanismus, von dessen Auswirkungen die Neapolitaner betroffen seien. So behauptete der Marquis de Sade, sie seien „ein Spiegelbild des Vesuv: Schönheit, vor der einem graut“.
Dass es von dieser Verwandtschaftstheorie nicht weit sein kann zur Gleichsetzung von Vulkanismus und sozialer Spannung, liegt auf der Hand: In Daniel François Esprit Aubers Revolutionsoper „La Muette de Portici“ („Die Stumme von Portici“), welcher der Masaniello-Aufstand von 1647 zugrunde liegt, eine Hunger- und Steuerrevolte gegen das spanische Vizekönigtum, fällt der hochdramatische Höhepunkt des letzten Akts mit einem Ausbruch des Vesuv zusammen.
Eines vergleichbaren dramaturgischen Kunstgriffs bediente sich der deutsch-italienische Schriftsteller Curzio Malaparte in seinem 1950 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Die Haut“. Hintergrund ist unter anderem Neapel während des zweiten Weltkriegs, der Landung der Alliierten, der Bombenangriffe, der Vertreibung der deutschen Besatzer. Zu aller drastischen Beschreibung der hungernden, demoralisierten Bevölkerung und der grassierenden Epidemien lässt Malaparte auch noch den Vesuv ausbrechen. Ausgebrochen ist er allerdings tatsächlich, und zwar am 18. März 1944 - nicht so verheerend wie 1631, dennoch furchtbar genug, denn, so schreibt Dieter Richter, „in Neapel und bis weit an den Golf von Salerno ist es neben dem Lapilli-Hagel vor allem der dichte beißende Ascheregen, der das Land verfinstert“.
Krieg mit den Mitteln der Natur
In Malapartes Roman wird aus dem Faktum der Eruption ein erzählerisch-strategischer Doppelgriff: Krieg und die desaströsen Kriegsfolgen skandiert und illustriert der speiende Berg, zugleich gemahnt die Eruption an eine Fortsetzung des Kriegs mit den Mitteln der (vulkanischen) Natur. Eine solche Wechselwirkung prägt Malapartes Schilderung des Meeres, dessen Oberfläche nach der Entladung einer Lapilli-Wolke einem von Beulen und Pusteln entstellten menschlichen Körper gleicht: „Soweit der Blick reichte, sah man nichts als eine harte, fahle Kruste, übersät mit Löchern, gleich den Narben einer ungeheuerlichen Blatternerkrankung; und unter dieser reglosen Kruste ahnte man den Druck einer urweltlichen Kraft, eines mit Mühe gebändigten grimmigen Tobens, wie wenn das Meer drohe, sich aus der Tiefe zu erheben, seinen harten Schildkrötenpanzer zu sprengen, um der Erde den Krieg anzusagen und ihren grausigen Aufruhr auszulöschen“.
Im späten 19. Jahrhundert ging eine neapolitanische Canzone um die halbe Welt: „Funicolì, funicolà“. Nach einem Text von Peppino Del Turco wurde sie von Luigi Denza komponiert - rechtzeitig zur Eröffnung ihrer Namensgeberin, der Funicolare del Vesuvio, der Vesuvbergbahn. Zwar klagte schon 1829 der aus Heilbronn stammende Dichter und Hölderlin-Freund Wilhelm Waiblinger, dass der Vesuv überlaufen sei und dass „die Engländer“ - damals die Prototypen des Massentourismus - „dem gefühlvollen Besucher die Stimmung verdürben“. Welche Ausmaße der bald unternehmerisch gesteuerte Vesuv-Tourismus nur 50 Jahre später annehmen würde, konnte der schwäbische Italienfahrer freilich nicht ahnen.
Was bis dato Esel, Maultiere oder Pferde zu leisten hatten, bewältigte nunmehr die neue, fast bis zum Gipfel führende Bergbahn, die 1888 von der englischen Firma Thomas Cook & Son, einem straff organisierten Reiseanbieter, übernommen wurde. Die Funicolare Vesuviana war bis zum Ausbruch im Jahr 1944 im Einsatz - von wenigen, durch gelegentliche Eruptionen verursachten Unterbrechungen abgesehen. 1953 wurde die Seggiova del Vesuvio in Betrieb genommen, ein Sessellift. 1984 wurde er eingestellt.
„Um 17 Uhr schließt der Berg“
Heute ist der Berg, dessen teilweise wieder bewachsene Flanken seit 1995 ein Nationalpark schützen soll und dessen potenziell gefährliches „Innenleben“ ein weitläufig vernetztes, auch die Solfatara und das vulkanische Ischia einbindendes, hochsensibles Überwachungssystem aushorcht, eine „entthronte Majestät“, eine „erkaltete Schönheit“, schreibt Dieter Richter: „Die Besucher, es sind bei heiterem Wetter viele Tausende am Tag, kommen in der Regel mit großen Reisebussen oder im eigenen Auto über die schmale, kurvenreiche Straße, die sich von der Autobahn Neapel-Salerno die Hänge des Berges hinaufwindet. Sie endet an einem großen, staubigen Parkplatz mit den üblichen touristischen Etablissements. Von dort geht es zu Fuß weiter, nachdem man am Kartenhäuschen Eintritt - Eintritt für einen Berg! - bezahlt hat. Um 17 Uhr schließt der Berg, bei schlechtem Wetter bleibt er ohnehin geschlossen.“
An manchen Tagen, wenn tief hängende Wolken den Kraterrand berühren, suggeriert der Vesuv für eine Weile das Bild eines erneut tätig gewordenen Vulkans. Aber dann ziehen die Wolken weiter und geben den Blick wieder frei auf den 1294 Meter hohen „Erschütterer“, von dessen Potenz lediglich seine brandigen Geröllflanken zeugen, auf denen von Mai bis August der Ginster blüht. Völlig seinem feurigen Element und in Polarzonen ewigen Eises entrückt erscheint der Berg, wenn, nach kalten Januar- und Februarnächten, beide Gipfel unter einer Schneedecke liegen. An solchen Tagen verwandelt er sich in eine Fata Morgana, schwebend über dem Blau des Golfs und den graugelben Dunstschleiern der Millionenstadt Neapel.
Das Wesen des Berges fasst Richter zusammen: „Der Vesuv ist die Magmakammer der Erinnerung der Neapolitaner. Auch überstandene Katastrophen sind in dieser Stadt gegenwärtig und werden beständig überspült vom raschen, lauten Leben des Gegenwärtigen. Dass jederzeit Unheil drohen kann an einem Ort, an dem der Boden unter den Füßen in ständiger Bewegung ist: für diese Urerfahrung steht der Vesuv. Auf nichts ist Verlass, der Schein trügt, alles ist im Fluss“.
Das empfehlenswerte Buch „Der Vesuv - Geschichte eines Berges“ von Dieter Richter ist bei Wagenbach erschienen (213 Seiten, 24,50 Euro).
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