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„Lulu“ war das erste Stück, das Christian Spuck vor zehn Jahren als Choreograf auf die Bühne brachte. Jetzt bringt der heutige Züricher Ballettdirektor das Werk nach Stuttgart zurück.

StuttgartZum Ende seiner Intendanz schließt Ballettintendant Reid Anderson in vielen Dingen den Kreis – so kehrt er zum Beispiel zum ersten großen Handlungsballett zurück, das er damals in Auftrag gab. Christian Spuck, heute Ballettdirektor in Zürich, war der erste Haus-Choreograf der neuen Ära Anderson, 2003 landete seine „Lulu“ ein Riesenerfolg bei Publikum und (der meisten) Presse. Zehn Jahre nach der letzten Aufführung kehrt die getanzte „Monstretragödie“ jetzt in einer kaum veränderten Neufassung ins Opernhaus zurück; ein wenig wurde gekürzt, ein paar Kostüme verändert, die Kronleuchter fehlen. Alles andere blieb gleich, auch Alicia Amatriain, die Besetzung der Titelrolle.

Spuck hat die Handlung extrem verdichtet, fast moritatenhaft wirkt die rasche Abfolge von Bildern – jeder Liebhaber ist eine Station des Dramas, an Tischen aufgereiht warten sie auf ihren Einsatz, fallen wie in einer grotesken Operette einer nach dem anderen der verhängnisvollen Kindfrau zum Opfer. Verstärkt wird der Eindruck einer expressionistischen Burleske durch die bleichen Gesichter und dunkel umrahmten Augen, die jetzt nicht nur Lulu, sondern fast alle Tänzer haben. Rasant, ironisch, wie im Zirkus rattern dazu die Walzer und Jazzsuiten von Dmitri Schostakowitsch, vor allem der erste Akt legt einen flotten Drive vor, bevor Werke von Alban Berg und Arnold Schönberg das Geschehen im zweiten Teil dunkler tönen. James Tuggle dirigierte die höchst gelungene Zusammenstellung, das Staatsorchester swingt.

Corps de ballet erneut grandios

Dirk Beckers karge Bühne ist gleichzeitig Wartehalle, Ballsaal und anonymes Treppenhaus, in dem eher emblematische Figuren statt wirklicher Charaktere agieren: der idealistische Maler im schwarzen Existenzialisten-Rolli (wenig einprägsam: Noan Alves), der gierig-verklemmte Gentleman (mit großer Würde: Roman Novitzky), sein sanfter Sohn (lyrisch und edelmütig: David Moore) sowie ein brutales Mannsbild von einem Artisten – als Rodrigo macht Flemming Puthenpurayil mit ausdrucksstarker Körpersprache nachhaltig auf sich aufmerksam. Am heftigsten lodert die Flamme in Gräfin Geschwitz – Anna Osadcenko ist in ihrer langgliedrigen Eleganz zwischen Begierde und Erniedrigung zerrissen, das hat fast noch mehr Klasse als damals Bridget Breiner.

Der schmierige Zuhälter Schigolch, der Lulu von Anfang bis Ende begleitet, ist bei Spuck eine Art Conférencier und beschreibt in detailverliebter Prosa die Leichen, die Lulus späterer Mörder Jack the Ripper während seiner blutigen Karriere abliefert – Louis Stiens fegt aufsässig und ungerührt durch die Meute der Verehrer, eine Spur intellektueller als damals der geschäftstüchtige Eric Gauthier. Erstaunlich, wie wenig Alicia Amatriain sich in den 15 Jahren seit der Premiere verändert hat – noch immer strahlt ihre Lulu diese aufreizende Naivität aus, steuert mit mädchenhafter Unschuld, aber zielstrebigem Instinkt auf das zu, was sie haben will. Wie Widerhaken sträuben sich ihre Füße immer wieder gegen das schöne Gestrecktwerden (wer hat’s erfunden: Mats Ek), im Körper dieser Lulu wohnt ein freier, aber unbewusster Geist, der ihre grenzenlose Faszination für die Männer ausmacht.

Grandios agiert erneut das Corps de ballet, wie beim „Schwanensee“ die große Stärke der Stuttgarter Kompanie. Der Auftritt der zwölf verkniffen hinter Lulu hersabbernden Freier und die muntere Vaudeville-Jagd über die Tische gehören auch rein handwerklich zum Besten, was Spuck in seiner Karriere choreografiert hat. Denn trotz gesprochener Monologe, Multimedia-Einsatz und Songs (Maria Theresa Ullrich wurde extra von der Oper für einen kurzen Auftritt als Jazzsängerin ausgeliehen) bleibt „Lulu“ Ballett, ist weder Tanztheater noch Psychodrama. Ein wenig nüchtern wirkt der Abend, wenn er gegen Ende nach so vielen Morden auströpfelt, aber das liegt an Wedekind. Christian Spucks dunkle, ein wenig lakonische Ästhetik hat das deutsche Handlungsballett seit dieser „Lulu“ durchaus beeinflusst – auch ohne den damaligen Neuigkeitswert hält sich das Stück ganz gut.