Probenszene mit Galina Freund als Anne Frank. Foto: P. Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen -Vor ziemlich genau 75 Jahren - am 12. Juni 1942 - bekam Anne Frank zu ihren 13. Geburtstag ein Geschenk mit weltliterarischen Folgen. Das Poesiealbum, das sie sich gewünscht hatte, führte sie als Tagebuch, und dessen Text wurde weltberühmt - als einzigartiges historisches Dokument, aber auch dank des schreiberischen Talents und der Beobachtungsgabe der jugendlichen Autorin.

Knapp einen Monat nach Anne Franks Geburtstag - am 6. Juli 1942 - musste die jüdische Familie ein Versteck in einem Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht beziehen. Seit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in den Niederlanden 1940 hatte sich der Verfolgungsdruck auf die Juden permanent erhöht. Den Franks, 1934 aus Frankfurt ins Amsterdamer Exil geflohen, und vier weiteren Untergetauchten blieb keine andere Zuflucht als der äußerst beengte Raum in jenem Versteck. Sie verbrachten dort zwei Jahre, bis sie im Sommer 1944 höchstwahrscheinlich nach einem Verrat von der Gestapo entdeckt, verhaftet und deportiert wurden. Nur Anne Franks Vater Otto Heinrich überlebte die Konzentrationslager.

In ihrem Tagebuch schildert Anne Frank die Situation der Enge ohne Intimsphäre, die Angst vor den Nazi-Schergen, die nur durch ein Radio und die fünf Helferinnen und Helfer hergestellten Kontakte zur Außenwelt.

Mörderische Hass-Politik

Aber die Aufzeichnungen erzählen auch von den Sehnsüchten eines pubertierenden Mädchens, von der ersten Liebe, von der Erfahrung des Erwachsenwerdens. Gerade diese Verbindung aus sensibler Selbsterfahrung, Reflexion der bedrückenden Lage und der mörderischen Hass-Politik, die sie schuf, macht den auch literarisch einzigartigen Rang des Tagebuchs aus. Als es 1947 von Annes Vater in stark redigierter Form veröffentlicht wurde, avancierte es schnell zum Weltbestseller. 1955 schrieben die amerikanischen Autoren Frances Goodrich und Albert Hackett eine Theaterfassung, die 2013 von der Amerikanerin Wendy Kesselman aktualisiert wurde: In der Zwischenzeit war der Originaltext der Aufzeichnungen veröffentlicht worden, Kesselman fügte einst unterdrückte Passagen ein, schärfte aufgrund des originalen Wortlauts das Profil der Personen, die nun kontroverser erscheinen.

„Qualvoll vergehende Zeit“

Auf dieser Fassung basiert Christine Gnanns Inszenierung an der Esslinger Landesbühne (WLB), die morgen als Koproduktion von Junger und „erwachsener“ WLB im Esslinger Schauspielhaus Premiere hat. Kritisch will Gnann in ihrer Inszenierung mit jenen glättenden 50er-Jahre-Restbeständen umgehen, die auch in Kesselmans Adaption noch durchscheinen; mit jenem „Hollywood-Touch“, so die Dramaturgin Michaela Stolte, der allzu sentimentalisch die Liebesgeschichte Annes zu ihrem Leidensgenossen Peter van Pels ausmalt. „Tatsächlich“, sagt Stolte, „geht es da nicht um die große Liebe. Vielmehr hatte Anne in Peter jemanden gefunden, mit dem sie reden konnte und von dem sie sich verstanden fühlte.“ Regisseurin Gnann hat deshalb zusätzliche originale Tagebuch-Einträge verwendet, mit textlosen Szenen will sie die „öde und qualvoll vergehende Zeit“ darstellen, den Zwang der Umstände, „wo man sich nicht bewegen darf, um möglichst kein Geräusch zu machen, wo man nicht mal auf die Toilette darf“. Für das quirlige junge Mädchen bleibt in der allgegenwärtigen Bedrohung nur die Flucht in die Phantasie, der „Trichter nach oben“, wie Gnann formuliert. Diese Gedankenwelt Anne Franks, diese Wunschbilder von Freiheit stellen die Videos von Oliver Feigl und Michael Krauss dar. „Wir sind von Bildern ausgegangen, die Anne Frank selbst an die Wand gepinnt hat - Fotos von Filmstars oder Porträts von Künstlern“, erklärt Krauss.

Was sich hier in der Vorstellungskraft öffnet, wird in Marion Eiseles Bühnenbild wieder geschlossen zur Hermetik der realen Versteck-Situation. Leiten ließ sich die Bühnenbildnerin von einer „aktuellen Assoziation“, wie sie sagt: „von den heutigen Flüchtlingslagern, in denen es ebenfalls keinerlei Privatsphäre gibt.“

Die Premiere beginnt morgen um 19.30 Uhr im Esslinger Schauspielhaus. Die nächsten Abendvorstellungen folgen am 15. und 22. Juli.