Frieren und Ignorieren auf der Züricher Bühne. Foto: Ballett Zürich/Gregory Batardon - Ballett Zürich/Gregory Batardon

Der Zürcher Ballettdirektor Christian Spuck hat erstmals eine getanzte Version von Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ inszeniert. Der inzwischen 84-jährige Komponist steht selbst mit auf der Bühne. Doch so faszinierend das widerständige Werk nach wie vor ist: Spucks distanzierter Zugriff bewegt einen nicht.

ZürichDas Klirren, Klopfen, Kratzen, das Ritschen, Wischen, Knirschen fasziniert weiter: Hartnäckig hält sich „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ auf den Spielplänen internationaler Opernhäuser. Helmut Lachenmanns schwieriges, erstaunliches Musiktheaterwerk wird zu einer Art letztem Widerstand der Neuen Musik gegen die angenehmen Wogen der Minimal Music. Mit Stuttgarter Beteiligung fand nun in Zürich die Schweizer Erstaufführung der „Musik mit Bildern“ statt, sie ist die erste getanzte Version, inszeniert vom Zürcher Ballettdirektor und ehemaligen Stuttgarter Hauschoreografen Christian Spuck, dirigiert vom Lachenmann-Spezialisten Matthias Hermann von der Stuttgarter Musikhochschule.

Der nach wie vor in Leonberg wohnhafte Komponist, der im November 84 Jahre alt wird, steht in Zürich selbst auf der Bühne – spricht, skandiert, zerlegt jenen zentralen Text von Leonardo da Vinci über die lockende Schwelle des Todes, den er genau wie einen Brief der Terroristin Gudrun Ensslin in die Handlung von Hans Christian Andersens todtraurigem Märchen eingebaut hat. Die Geschichte vom erfrierenden Kind, das sich im Licht seiner Zündhölzchen ein warmes Heim vorstellt, wird zur Parabel über die Kälte der Gesellschaft, über den in Kauf genommenen Tod als Mittel der Veränderung. Spröde, rätselhaft, faszinierend klingt das Werk, weil Lachenmann kaum ein Instrument so bedienen lässt, wie es vorgesehen ist. Die Sänger schnalzen, klopfen auf die Wangen oder reiben Styroporplatten aneinander. Der Raumklang fällt im recht kleinen Zürcher Opernhaus geradezu überwältigend aus – nicht nur ist der Orchestergraben bis zum Bersten voll besetzt, musiziert und gesungen wird auf vier Etagen: Streicher sitzen in den Logen, aus dem Rang klingen das Schlagwerk und der exzellente Chor, die Basler Madrigalisten.

Die Titelheldin ist keine singende Protagonistin, die zwei Sopranstimmen dienen eher als Instrumente: Alina Adamski und Yuko Kakuta, Kammersängerin an der Stuttgarter Oper, sitzen ohne Interaktion auf Stühlen zwischen den Tänzern. In die Fremdartigkeit der Partitur, in die stets stärker werdende Überwältigungsstrategie der Geräuschmusik bringt Spuck Ordnung, indem er die Tänzer mit Kreide die Szenen auf die Rückwand schreiben lässt: „Frier-Arie“ steht dort oder „Hauswand 1“. Eine willkommene Stütze zum Verständnis und vielleicht doch ein Zuviel an Brecht’scher Nüchternheit.

Er bebildert das Märchen, zeigt etwa die Gegenwelt der reichen Kinder mit Schaukelpferden, und greift zum Mittel der Vervielfachung. Das Mädchen gibt es in bis zu sechs Reinkarnationen, meistens sind es zwei Tänzerinnen, die auf Bühne im Hemdchen frieren. Achtlos tanzt die Gesellschaft vorüber. Anstatt die Angst und Sehnsucht des Mädchens durch verfremdete Kleider abzubilden, will Kostümbildnerin Emma Ryott auch hier nichts als schick sein. Die Rückwand zeigt ein schwarzweißes Bild der Zerstörung, Rufus Didwiszus hat eine Brandruine zum Bühnenbild gemacht, die Gudrun Ensslin hinterlassen hatte. Mehrfach tritt uns die RAF-Terroristin, erschreckend lebensecht verkörpert durch Katja Wünsche, hager und misstrauisch entgegen. Aber wer sind die unheimlichen Gaukler, die hinter der Wand in den Stangen hängen? Ensslin tritt einen der Clowns tot, während um sie herum Tänzer das Geschehen durch modernes Ballett kommentieren.

Spuck kommt nicht weg von seiner modernen Ballettästhetik. Alle tanzen gleiche Bewegungen. Dem Choreograf fehlt die Gabe, eine junge Frau durch allereinfachste Gesten in ein unschuldiges Kind zu verwandeln, vielleicht will er das auch gar nicht. Mitleid mit dem sterbenden Mädchen hat man eigentlich erst am Schluss, wenn die Tänzerinnen langsam von Schnee bedeckt werden.

Genau wie in der Stuttgarter Inszenierung von Peter Mussbach aus dem Jahr 2001 steht man mit Staunen und Bewunderung vor Lachenmanns monumentalem Werk. Der seltsam analytische, distanzierte Zugriff verhindert aber, dass die Zürcher Inszenierung wirklich in die Magengrube trifft. Sind Schwarz-Weiß-Bilder von schneebedeckten Straßen wirklich die passende Videozuspielung? Müssten es nicht die Bilder eines ertrunkenen Dreijährigen an der Ägäis-Küste sein oder kleine Kinder in Käfigen an der mexikanischen Grenze? Nichts, nichts hat sich geändert.

Weitere Vorstellungen am 18., 20., 25., 27., 31. Oktober, 1., 10., 14. November.