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Einen Zugang zur Kunst finden Menschen mit und ohne Einschränkungen im Offenen Atelier im Nachbarschaftshaus im Scharnhauser Park. Künstler aus der Region unterstützen die Sache.

OstfildernHochkonzentriert und für sein Umfeld fast unerreichbar vertieft sitzt der Mann vor seinem Objekt, streicht hingebungsvoll mit dem Pinsel über die Verästelungen der amorphen Form. Er wirkt vollkommen zufrieden, mit sich und der Welt im Reinen. Er ist einer von 20 Teilnehmern beim Künstlerworkshop des Offenen Atelier Ostfildern im Nachbarschaftshaus im Scharnhauser Park. Die renommierte Objektkünstlerin, Malerin, Zeichnerin und Bildhauerin Anja Luithle aus Wendlingen hat sich bereit erklärt, den fünfwöchigen Workshop unter dem Titel „Schöne Aussichten …“ für Menschen mit und ohne Einschränkung durchzuführen.

Es sind in der Tat wunderbare Aussichten, die man in den freundlichen Atelierräumen genießt. Es ist der Blick auf Menschen unterschiedlichster Prägung, die sich im kreativen Tun begegnen und wortlos verstehen. Aber nicht nur. Manche unterhalten sich angeregt, plaudern über dies und das und tauschen sich lebhaft aus. Der ganze Raum ist erfüllt. Einmal in der Woche kommen Menschen aus der Stadt, aus den Einrichtungen, Gäste aus der Tagespflege und ehrenamtliche Begleiter zusammen, um etwas zu erschaffen, auf das sie stolz sind.

Gestalten und Herstellen

Gerade für Menschen mit Demenz, die vieles nicht mehr können, bedeute das Gestalten und Herstellen viel, betont Gabriele Beck von der Leitstelle für ältere Menschen in Ostfildern. Das Ergebnis wird am Samstag, 23. November, 16 bis 18 Uhr, in den Atelierräumen präsentiert. „Ein Nachmittag, bei dem der Spirit des Ateliers zum Klingen kommt“, verspricht Beck.

Gisela Burgfeld, Koordinatorin des Offenen Ateliers, schafft es dank ihrer jahrzehntelangen, ausgezeichneten Kontakte in der Künstlerszene, klingende Namen, wie den Tonkünstler Thomas Weber, den Fotografen Thomas Lichtenberg, die Malerin Almut Glinin, die Bildhauerin Birgit Rehfeldt und nun die Objektkünstlerin Anja Luithle ins Offene Atelier zu holen. Da arbeiten die Künstler dann mit Menschen mit und ohne Demenz. Für Anja Luithle war es die Herausforderung, eine Methode zu finden, mit der alle Teilnehmer umgehen können. Die hat sie im hölzernen Material gefunden. Kleine Äste, Stöckchen und Zweige werden mit feiner Gaze umwickelt und schließlich mit einem ungiftigen, eierschalenfarbenen Polymergips bestrichen. „Wickeln und streichen kriegt jeder hin“, so Luithles Erfahrung. Sie selbst stellt ihre vielbeachteten kinetischen Formen und Hüllen aus diesem Material her.

Ohne Vorgaben ausprobieren, verwerfen und verändern zu können, ist das Thema. Schließlich ist der Zufall auch eine Methode in der Kunst, denkt man an Gerhard Richter. Besonders schön sei es, eine Entwicklung zu verfolgen, findet die Künstlerin. Waren am Anfang viele Fragezeichen, entwickelten sich im Laufe der Workshops eine DNA-hafte Struktur, ein kleines Planetensystem oder ein Gesicht heraus. Ohne konkrete Vorlage sind Vergleiche nicht möglich, wenn jeder etwas Eigenes macht. „Es entsteht kein Wettbewerb und das Geschaffene wird nicht bewertet“, unterstreicht Gisela Burgfeld die prozesshafte Vorgehensweise. Jeder probiert und lässt der Fantasie freien Lauf. Die Künstlerin, die mit Preisen für ihre eigenen Arbeiten ausgezeichnet wurde, betont, dass es sich bei dem Projekt nicht um Kunsttherapie handelt. Sie gibt ihr Wissen gerne weiter, etwa im Rahmen des Lehrauftrags an der Freien Kunstakademie Nürtingen oder im Rahmen eines Kunstprojekts mit Förderschülern.

Im Offenen Atelier greift sie nur wenig ein, gibt hie und da kleine Anregungen, wenn gewünscht, um eine bestimmte Richtung anzustoßen. Wenn’s „Frau Künstlerin“ aus einer Ecke ruft, ist sie gleich zur Stelle und hilft auch mal beim Suchen des Bohrers, der dringend benötigt wird.

Emotionales Erleben ist wichtig

Natürlich ist es jedes Mal ein Abenteuer, wenn die Künstlerinnen und Künstler in die besondere Atmosphäre des Offenen Ateliers eintauchen und Kontakt zu den Teilnehmern knüpfen, erklärt Gabriele Beck. Bislang ist aus ihrer Sicht aber jedes Experiment geglückt. Fotografien an den Wänden belegen die gelungene Symbiose von professionellen Kunstschaffenden und interessierten Laien. „Das emotionale Erleben ist wichtig im Offenen Atelier“, sagt Gisela Burgfeld. Das Beispiel hat sie gleich parat: plötzlich ist der Polymergips zartrosa, wo er doch vorher noch einen Cremeton hatte.

Ermöglicht wird der kostenfreie Künstlerworkshop durch die großzügige Unterstützung der Bürgerstiftung. Das Offene Atelier ist ein Projekt der Gradmann Stiftung und ermöglicht Menschen mit und ohne Handicap montags und mittwochs von 14.30 bis 17 Uhr ohne Anmeldung und ohne Kosten sich kreativ zu betätigen und sich gegenseitig auszutauschen. Dadurch sollen auch die Schwellenängste im Kontakt mit Menschen mit Demenz abgebaut werden.

Anja Luithle zeigt ihre Arbeiten ab 1. Dezember im Rahmen einer Gruppenausstellung im Kunstverein Böblingen und ab 24. Januar 2020 in der Galerie von Braunbehrens in Stuttgart. Im Juni kommenden Jahres nimmt sie an der internationalen Skulpturen-Triennale im schweizerischen Bex teil.