Rosy Albrecht, Harry Walter und Sylvia Winkler (von links) zeigen im Tsingtau-Keller ihre ganz persönlichen Künstler-Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

17 Millionen Menschen verloren im Ersten Weltkrieg ihr Leben - allein Esslingen hatte zwischen 1914 und 1918 etwa 1300 Kriegsopfer zu beklagen. Das macht dieses Inferno von welthistorischem Ausmaß zu einem Ereignis, das sich auch tief in die Geschichte der Stadt und in die vieler Familien eingegraben hat. Dennoch ist der Erste Weltkrieg im Bewusstsein vieler verblasst - vor allem seine lokale Dimension. Mit dem historisch-kulturellen Langzeitprojekt „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ wollen Kulturamt, Stadtarchiv und Stadtmuseum Informationen über Weltpolitik und Kriegsverlauf mit Esslinger Stadtgeschichte und ganz persönlichen Schicksalen verbinden. Einen bemerkenswerten Beitrag zum Projekt haben die Künstler Rosy Albrecht, Susanne Parth, Sylvia Winkler und Harry Walter nun im Tsingtau-Keller in der Landolinsgasse 16 vorgestellt. Gemeinsam haben sie eine auf die Gegebenheiten des Ortes eingehende raumgreifende Installation geschaffen, die auf beeindruckende Weise zur Reflexion über den Ersten Weltkrieg und die bis heute spürbaren Folgen dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ herausfordert.

Ungewöhnlicher Resonanzkörper

Man kann Geschichte in Zahlen, Daten und Fakten vermitteln. So richtig fassbar wird sie jedoch erst, wenn man ergründet, wie Welthistorie in das Leben des Einzelnen eingreift. Mit dem Keller der Marinekameradschaft Tsingtau haben die vier Künstler einen außergewöhnlichen und sehr passenden Resonanzkörper für ihre Kunst gefunden, wie Stadtarchivar Joachim Halbekann in seiner Eröffnungsrede betonte. Der Name der Marinekameradschaft erinnert an jene in Vergessenheit geratene deutsche Kolonie, die vor dem Ersten Weltkrieg auf chinesischem Boden entstanden ist. Und das mit einer Fülle maritimer Erinnerungsstücke bestückte Vereinslokal ist für Harry Walter „genau das richtige Ambiente, um auf andere Gedanken zu kommen und hinreichend stabil, um für kurze Zeit einen Ausnahmezustand ertragen zu können“. So haben eine hochkomplexe Vergangenheit, deren Auswirkungen auf unsere Gegenwart und schließlich die künstlerische Intervention durch Rosy Albrecht, Susanne Parth, Sylvia Winkler und Harry Walter nach den Worten von Stadtarchivar Halbekann drei Zeit- und Sinnebenen auf erhellende Weise erschlossen - der Chor der Marinekameradschaft und die Worte ihres Vorsitzenden Dieter Benze setzten ganz eigene Akzente.

Da ist Harry Walter, der mit seiner Foto-Text-Installation „Knieschuss rechts“ Antworten auf die Frage sucht, was Krieg bedeuten kann: Ein im Internet erworbenes Foto eines jungen Mannes, der 1916 mit Knieschuss im Lazarett liegt und auf Genesung hofft, versucht der Künstler, auf seine Weise zu ergründen und zu interpretieren. Fast 100 Jahre nach Kriegsende kommt Walter zu dem Schluss: „Die letzten Kriegsteilnehmer und Zeitzeugen sind tot. Der Krieg besteht nun nicht mehr aus konkreten Erinnerungen, sondern aus einer Vielzahl abstrakter Erzählungen.“ So wird das Foto dieses jungen Verwundeten für den Künstler zum Ausgangspunkt einer literarisch-essayistischen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Funktionieren von Erinnerung.

Rosy Albrecht und Susanne Parth bereichern die Ausstellung mit ihrem beeindruckenden Kunstfilm „Schattenmorellen“, der zwischen Dokumentation und Fiktion changiert. Im Mittelpunkt steht ein ehemaliger Berufssoldat, der sich nach seiner Militärzeit in eine eigene, von Einsamkeit geprägte Welt zurückzieht, die ihn ständig mit seinen Ängsten und unerfüllten Wünschen konfrontiert. Scheinbar alltägliche Handlungen verkehren sich in Bedrohliches und Absurdes - die Militärerfahrung lässt ihn nicht mehr los. So entstand ein Werk von zeitloser Aktualität, denn das traumatische Kriegserleben hat Menschen zu allen Zeiten aus der Bahn geworfen.

Sicht der Frauen auf die Katastrophe

Mit Erinnerungen spielt Sylvia Winkler in der Installation „Frauen im Ersten Weltkrieg“. Im Saal des Tsingtau-Kellers hat sie auf acht beschrifteten und benähten Tischdecken Zitate aus Briefen und Tagebüchern von Frauen aus den Jahren 1914 bis 1918 verewigt. Die genähten Linien folgen den Karten von Schützengräben. Und wer diese Textschnipsel im ausgelegten Begleitheft aufmerksam liest, kann anhand dieser knappen Stimmungsbilder ermessen, wie weit der Weg damals vom Hurra-Patriotismus des ersten Kriegsjahres bis zu Sätzen wie diesem war: „Gibt es einen Gott, muss er uns seinen Schutz verleihen, denn ungerechter und grundloser ist wohl nie ein Krieg vom Zaun gebrochen worden.“