Schreiben in Schall und Hauch: Seminar in der Villa Merkel. Foto: Köhler - Köhler

In der Sound-Kulisse von Hannah Weinbergers Klangprojekt, das derzeit in der Villa Merkel aufgeführt wird, hat Ines Witka ein Schreibseminar veranstaltet.

EsslingenHören und schreiben, schreiben und vorlesen, vorlesen und hören. Diesem Kreis folgend könnten Teile spontan ausgedachter Kurzgeschichten bald eingehen in eine andere, akustisch wahrnehmbare Form von Kunst. Jedenfalls, wenn den Teilnehmerinnen eines Schreibkurses der Algorithmus hold ist und aus der Fülle aufgenommener Geräusche genau ihre Texte auswählt. Fragmente könnten dann aus einem der 19 in der Esslinger Villa Merkel verteilten Lautsprecher ertönen.

Hinter dieser Idee stecken insbesondere drei Köpfe. Zunächst die Künstlerin Hannah Weinberger, deren Projekt „When Time Lies“ derzeit in der Villa Merkel zu besuchen ist und das Gebäude in einen begehbaren Klangraum verwandelt. Dann Seminarleiterin und Schriftstellerin Ines Witka, die die Idee hatte, hier einen Schreibkurs abzuhalten. Die nötige Unterstützung kam von Johannes Kaufmann, der als Kunstvermittler und Experte für die Besonderheiten der Villa auftritt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Witka ein Seminar in einem Museum durchführt. Schon in die Staatsgalerie und ins Kunstmuseum in Stuttgart hat sie eingeladen – was, wie sie erzählt, zu kuriosen Situationen führte, etwa wenn andere Besucher die Schreibrunde für einen Teil der Ausstellung hielten und versuchten, einen Blick auf die Entwürfe der – fast immer weiblichen – Teilnehmerinnen zu werfen. Das Seminar in der Villa Merkel jedoch ist auch für Witka ein einzigartiges Experiment. „Lustvolle Anregungen zum Schreiben“ erwartet sie und zählt auf die besondere Atmosphäre des Ortes, der mit seinen „Irritationen, Provokationen und der inhaltlichen Dichte der Werke die Gedanken in ungewohnte Bahnen lenken“ soll. In der Villa Merkel liegt an diesem Tag die Herausforderung nicht so sehr darin, die Öffentlichkeit zu ignorieren, denn die Besucherzahl ist gering. Dafür lässt manches aus einem Lautsprecher abrupt ausgestoßenes Geräusch die Schreibenden zusammenzucken. Einmal ist es die unvermittelt einsetzende Wiedergabe der hellen, aufgeregten Stimmen einer Kindergartengruppe auf Kunsterkundung, ein andermal der Song „I’m dreamin‘ of a white Christmas“, eine akustische Botschaft, mit der sich Raum und Zeit schon fast überdeutlich widersprechen und dem Titel der Ausstellung Rechnung tragen.

Das Mikrofon hört alles mit

In dieser recht speziellen häuslichen Klanglandschaft beginnt Witka den Tag mit der Schreibübung „Wäre ich ein Haus, was für eines wäre ich?“. Die Teilnehmerinnen erhalten zehn Minuten Zeit. Die Ergebnisse bewegen sich in Beschreibungen von alten, modernen oder schönen Häusern, offenen und nur einzeln betretbaren Räumen, mit Aufschriften versehenen Türen, Familienporträts an weiß gestrichenen Wänden und weiten Blicken in die Landschaft. Bei der zweiten Lektion knüpft Witka an das Subjekt der Installation an: Geräusche. Die Aufgabe lautet, mit lautmalerischen Mitteln eine Geschichte so zu erzählen, dass sie sich Zuhörenden erschließt. Boah, grummel, hmpf, saus, hui. Die Einfälle der Schreiberinnen geben beispielsweise das Öffnen einer Bierflasche und das Trinken des Inhalts, das morgendliche Aufstehritual oder das Streicheln einer Katze wieder und rufen in der Gruppe Stirnrunzeln, anerkennendes Nicken und Lacher hervor. Für den Nachmittag schließlich hat Witka „Das Haus als Schauplatz“ als Thema vorgegeben, eine Übung, mit der über die Beschreibung des Gebäudes etwas anderes vermittelt werden soll, beispielsweise der Charakter seiner Bewohner.

Es wird überlegt, geschrieben, vorgelesen und gekichert. Die Frauen sind bei der Sache, während auch Witka aufmerksam zuhört und hie und da einen Kommentar abgibt – nie verletzend, stets hilfreich. Derweil hört das Mikrofon in der Halle der Villa Merkel alles mit. Manches wird aufgezeichnet und vielleicht wiedergegeben. Was und wann weiß niemand. Künftige Besucher von Weinbergers Ausstellung könnten also nachträglich Zeuge der geistigen Erzeugnisse jenes Tages werden. Etwa von einem Stück wie diesem hier:

„SSSSSSIIIIIIIIII SSSSSSIIIIIIIIIIIIII SSSSSSSSIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII.

‚Verdammtes Vieh!‘

Klatsch.“

Stille. Die dann so lange anhält, bis der Algorithmus ein anderes Geräuschfragment wiedergibt und sich so der nächste Kreis schließt.

Hannah Weinbergers Klangprojekt „When Time Lies“ ist noch bis 3. März geöffnet (dienstags von 11 bis 20 Uhr, mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr).