Berlinale-Chef Dieter Kosslick nimmt seinen Hut. Foto: dpa - dpa

Nicht nur die Preisverleihung sorgt bei der Berlinale für Spekulationen, sondern auch die Zukunft des Filmfestivals: Zum letzten Mal leitet es Dieter Kosslick.

Berlin Ehe an diesem Samstagabend im Berlinale-Palast am Potsdamer Platz die Silbernen und der Goldene Bär für den besten Film und herausragende künstlerische Leistungen vergeben werden, wird munter spekuliert, wer mit reicher Beute nach Hause reisen darf. 16 Filme haben diesmal im Wettbewerb um die Gunst der Jury gebuhlt, und wie immer bleibt es bis zuletzt offen, wie das Rennen ausgehen wird. Sicher ist nur: Die internationale Jury ist stets für eine Überraschung gut. Und noch eine Unbekannte gibt es diesmal in der Berlinale-Rechnung: Wo immer man ins Gespräch kam, ließ eine Frage nicht lange auf sich warten: Wie geht es weiter, wenn Festivalleiter Dieter Kosslick im kommenden Jahr seinen legendären Hut zumindest symbolisch an seine Nachfolger Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek weitergegeben haben wird? Denn nach 18 Jahren bläst Kosslick jetzt sein letztes Halali zur Bärenjagd.

Spekulationen über Film-Absage

Rund 400 Filme liefen diesmal in den verschiedenen Sektionen – nur 16 von ihnen im Wettbewerb, der Königsklasse des Festivals. Eigentlich sollten es 17 sein, doch der chinesische Beitrag „Yi miao zhong“ („Eine Sekunde“) musste gestrichen werden. Offiziell sprachen die Filmemacher von „technischen Problemen“. Doch die Tatsache, dass der Regisseur Zhang Yimou in China immer wieder von Aufführungsverboten betroffen war, öffnete Spekulationen über politische Hintergründe der Absage Tür und Tor. Immerhin reflektiert der Film eine so heikle Epoche wie die Zeit der chinesischen Kulturrevolution. Wenn es nach manchen Kinobetreibern gegangen wäre, hätte es sogar noch einen weiteren Wettbewerbsbeitrag erwischen können: Einige forderten, Isabel Coixets „Elisa y Marcela“ gar nicht antreten zu lassen, weil der Film als Netflix-Produktion möglicherweise gar nicht in den regulären Kinos laufen werde.

Die Debatte, wie sich das Kino im digitalen Zeitalter weiterentwickeln könnte, zog sich wie ein roter Faden durch dieses Festival – genau wie die Frage nach der Gendergerechtigkeit. Manche empfanden die 69. Berlinale als ein „Festival der Frauen“ – angefangen beim Motto „Das Private ist politisch“, das untrennbar mit der Frauenbewegung verbunden ist. Dieter Kosslick hat stolz vermeldet, dass von 17 Wettbewerbsfilmen immerhin sieben von Regisseurinnen gedreht wurden – diese Quote von 41 Prozent ist weit besser als bei anderen großen Festivals. Ziel ist jedoch eine Fifty-fifty-Verteilung. Insgesamt ist die bei dieser Berlinale fast er-reicht: Von den rund 400 gezeigten Filmen wurden 191 von Regisseurinnen gedreht. Doch das kann es für Jury-Präsidentin Juliette Binoche noch nicht gewesen sein. Die französische Schauspielerin bekannte: „Die Me-Too-Debatte war notwendig“ – und sie sei so wichtig wie die feministische Bewegung in den 70er-Jahren. Deshalb ist Binoche sicher: „Wir sind noch nicht am Ende.“

Branchenkenner sehen die deutschen Wettbewerbsbeiträge vorne mit dabei, doch das ist nur ein vorsichtiger Fingerzeig. Während Fatih Akins Romanverfilmung „Der Goldene Handschuh“ über den Serienmörder Fritz Honka nichts für Zartbesaitete ist, punktete Angela Schanelec mit ihrem Mutter-Kind-Drama „Ich war zuhause, aber“ beim Fachpublikum. Und der Debütantin und Ludwigsburger Filmakademie-Absolventin Nora Fingscheidt gelang mit „Systemsprenger“ ein höchst eindrucksvolles Kinodrama über die Sehnsucht eines Kindes nach Liebe und Geborgenheit. Viele hätten der erst zehnjährigen Hauptdarstellerin Helena Zengel am liebsten auf der Stelle einen Goldenen Bären für die beste darstellerische Leistung in die Hand gedrückt.

Bewusster Verzicht auf Starrummel

Dass Kosslick vor seiner letzten Berlinale seine Kontakte nicht stärker spielen ließ, um sich zum Abschied mit einem internationalen Staraufgebot ein fulminantes Finale zu bescheren, hat manche überrascht. Doch der scheidende Festival-Direktor hat bewusst auf Star-Kino made in Hollywood verzichtet. Entsprechend rar machte sich die Prominenz. Um so heißer begehrt waren Selfies und Autogramme der wenigen Stars wie Geraldine Chaplin, Tilda Swinton, Catherine Deneuve, Diane Kruger, Andie MacDowell, Christian Bale, Martin Freeman oder Bill Nighy. Dafür ist die 69. Berlinale ihrem Kurs treu geblieben und hat statt mit großen Namen lieber mit (gesellschafts-)politischem Anspruch und einem klaren Profil gepunktet.

Diesen Weg dürfte man im kommenden Jahr noch weiter gehen. Immerhin hat Kosslick-Nachfolger Carlo Chatrian als künstlerischer Leiter des Internationalen Filmfestivals von Locarno bereits gezeigt, dass ihm ein hoher inhaltlicher Anspruch und filmische Qualität allemal wichtiger sind als Glanz und Glamour. Ein interessanter Anspruch für die Berlinale, die sich eigentlich als Publikumsfestival empfindet. Dass da bei aller Qualität auch etwas Starrummel dazugehört, haben viele enttäuschte Reaktionen auf die raren Promis in diesem Jahr bewiesen. Der Schauspieler Udo Kier, einer der meistbeschäftigten Deutschen in Hollywood, teilt indes die Sorge nicht, wie er unserer Zeitung verriet: „Ich kenne Carlo Chatrian schon lange und war zweimal bei ihm in Locarno in der Jury. Er versteht sein Geschäft und wird ein wunderbarer Festivaldirektor sein.“