Foto: Holzwarth - Holzwarth

In Nürtingen fällt in wenigen Tagen eine Vorentscheidung über die Zukunft des Hölderlinhauses. Auf dem Spiel steht die historische Bausubstanz.

NürtingenIn wenigen Tagen fällt eine Vorentscheidung über das Bildungszentrum Schlossberg und damit auch über die Zukunft des Nürtinger Hölderlinhauses. Bevor die Öffentlichkeit informiert wird, werden am kommenden Mittwoch in nichtöffentlicher Sitzung dem Bewertungsgremium für das Vergabeverfahren die Vorschläge der drei im Rahmen der Mehrfachbeauftragung ausgewählten Architekturbüros präsentiert. Nürtingens Oberbürgermeister Otmar Heirich und die Verwaltung haben sich im Vorfeld für eine Aufstockung des bestehenden Gebäudes stark gemacht (wir berichteten). Sie begründen ihre Position vor allem mit dem Raumbedarf der örtlichen Volkshochschule, die derzeit noch in verschiedenen Gebäuden der Stadt untergebracht ist und nach der grundlegenden Sanierung beziehungsweise Modernisierung des Hölderlinhauses mitsamt der Kulturverwaltung und Teilen der Seminarräume unter dessen Dach ziehen soll.

Der Nürtinger Hölderlinverein hingegen ist für den unbedingten Erhalt der Bausubstanz aus Hölderlins Zeit, zumindest für eine Sanierung im Bestand, die gegenüber der von der Stadt favorisierten Aufstockungslösung auch deutlich kostengünstiger ist – wobei sämtliche im Raum stehenden Zahlen aufgrund der langen Verzögerung des Projekts möglicherweise inzwischen überholt sind. Das von der VHS angemeldete Raumprogramm lasse sich auch in einem bestandssanierten Haus realisieren, argumentieren Ingrid Dolde und ihre Mitstreiter. Sie rechnen anhand der von der Stadt vorgelegten Zahlen vor, dass eine reine Bestandssanierung auch längerfristig die betriebswirtschaftlich vernünftigere Lösung sei. Entscheidend aber ist für deren Befürworter, dass im Falle einer Aufstockung baurechtlich automatisch erhebliche statische Maßnahmen zur Erdbebensicherheit ausgelöst würden, die faktisch auf eine weitgehende Zerstörung der im Nürtinger Hölderlinhaus noch in besonderem Maße vorhandenen Originalbausubstanz hinauslaufen würden.

Denkmalwürdiges Gebäude

Auch im Nürtinger Rathaus ist man sich dieses Alleinstellungsmerkmals als Imagefaktor gegenüber den Hölderlinstädten Lauffen und Tübingen durchaus bewusst. Man spricht von einer „authentischen Wirkungsstätte“ und betont die kulturgeschichtliche Dignität dieses erhaltenswerten Hauses, das formal zwar nicht in der Liste denkmalgeschützter Gebäude eingetragen ist, aber „in und für Nürtingen eine besondere Bedeutung“, mithin stadtbildprägende Relevanz besitzt und als denkmalwürdig einzustufen ist.

In der – Anfang dieses Jahres aktualisierten – Aufgabenstellung zur Mehrfachbeauftragung wird nicht nur betont, dass bei den Sanierungs- und Modernisierungsarbeiten noch vorhandene ursprüngliche Bausubstanz aus der Zeit Hölderlins „möglichst weitgehend bewahrt werden (soll)“. Es soll „aus Kostengründen und vor dem Hintergrund von Themen wie Erdbebensicherheit und Bestandsschutz auch eine alternative Lösung unter Erhalt des Bestandsdaches und des Raumprogramms untersucht werden“.

Für eine Erhaltung des Hölderlinhauses mit Rekonstruktion der alten Dachform hatte der Bauhistoriker Johannes Gromer in seinem von der Stadt Nürtingen in Auftrag gegebenem Gutachten aus dem Jahr 2009 plädiert.

Die Befunde des zwischenzeitlich verstorbenen Architekten sind in einen Essay eingeflossen, der 2011 in der Zeitschrift „Schwäbische Heimat“ unter dem Titel „Das Haus, in dem Friedrich Hölderlin in Nürtingen aufwuchs“ veröffentlicht wurde. Daraus geht einerseits hervor, dass das Haus im Jahre 1884 noch ein Mansarddach besaß, nachdem 1812 im Gebäudeinneren Umbauten für die neue Nutzung als Schulhaus vorgenommen worden waren.

1904 fand dann ein deutlich größerer Eingriff statt, um weitere Fläche zu gewinnen, der den Bereich über der Beletage wie einen Neubau erscheinen ließ, welcher dem Gebäude seine bis dahin harmonischen Proportionen nahm. Der Bauhistoriker geht in diesem Zusammenhang nicht auf die Frage ein, ob beziehungsweise in welchem Umfang dabei auf die historische Kernkonstruktion zurückgegriffen worden ist, so wie das damals durchaus üblich war.

Hinweise auf ursprüngliches Dach

Der von Gromer beigefügte Planungsquerschnitt aus dem Umbaujahr 1904 zeigt im oberen Bereich des Daches einen liegenden Stuhl mit Kopfstreben, der eindeutig zum ehemaligen Mansarddach gehört – von einem vollständigen Abbruch der Ursprungskonstruktion kann also keine Rede sein, allenfalls von einem Umbau. Für den Rottenburger Fachwerkspezialisten Tilmann Marstaller, der seit neun Jahren auch als Dozent für historische Bauforschung am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Tübingen lehrt, legen die von Gromer vorgelegten Befunde und Dokumente nahe, dass „zumindest im zweiten Dachgeschoss die ursprüngliche Konstruktion noch in größeren Teilen vorhanden sein dürfte.“ Möglicherweise hat auch das Traggerüst im ersten Dachstock noch – in welchem Umfang auch immer – bei den Eingriffen Verwendung gefunden, doch um das sicher zu klären, müsste man eine bauhistorische Untersuchung mit dendrochronologischer Datierung der fraglichen Teile durchführen, erklärt Marstaller.

So spricht die Aktenlage dafür, dass in der bestehenden Kubatur tatsächlich noch viel vom ursprünglichen Hölderlinhaus steckt. Gromer selbst lässt übrigens am Ende des Essays durchblicken, was er von den gegenwärtigen „atemberaubenden“ Sanierungs-Ideen hält, wozu er auch die Aufstockungsvariante der Stadtverwaltung rechnet. Er empfiehlt hellsichtig – gerade auch mit Blick auf das einzigartige touristische Pfund historischer Substanz – eine Lösung, welche „eine möglichst authentische Erscheinung“ von „Nürtingens potentiellem kulturellem Highlight“ gewährleistet: „Wie einfach wäre“, so Gromer wörtlich in seinem Gutachten, „eine Wiederherstellung der früheren äußeren Hausgestalt durch Wiederherstellung des ehemaligen Mansard-Daches mit seinen Mansard-Gaupen“.

Gromers kluges Plädoyer für Zurückhaltung entspricht auch der für die Modernisierung des Hölderlinhauses verbindlichen Stadtbildsatzung, die erst vor wenigen Monaten vom Nürtinger Gemeinderat verabschiedet wurde. In der Präambel bekennt sich die Stadt unmissverständlich zur Bewahrung ihres baukulturellen Erbes.