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Als die amerikanische Rockband SunnO))) vor drei Jahren ein Konzert im legendären Londoner Kellerclub Underworld gab, beschwerten sich die Betreiber einer Imbiss-Bude auf der gegenüber liegenden Straßenseite: Das Kebabfleisch bröckele vom Spieß. SunnO))) (gesprochen wie das englische Wort sun) hatten mit ihren heruntergestimmten, böswillig verzerrten und unerhört lauten Gitarren die Erde zum Beben gebracht.
SunnO))) spielen nicht nur laut, sie spielen auch langsam. Sehr langsam. Auf dem frühesten Demo der Band, vor einiger Zeit unter dem Titel "The Grim Robe Demos" wiederveröffentlicht, wird der zweite Gitarrenakkord erst nach mehr als viereinhalb Minuten angeschlagen. Ein Schlagzeug gibt es hier nicht. SunnO))) zerlegen die Rockmusik in ihre einzelnen Komponenten und zelebrieren den Klang, bis sie bei abstrakter Minimal Music landen.
Kultisch verehrt
Von ihren Fans kultisch verehrt, haben SunnO))) die Drone-Rock-Nische längst verlassen, die sie zusammen mit Bands wie den Melvins und Earth überhaupt erst geschaffen haben. Auf ihrer letzten Europa-Tournee spielten sie im großen Saal der Berliner Volksbühne. Ihr neues Album "Altar", eine Kooperation mit der japanischen Noiserock-Band Boris, gilt als eine der wichtigsten Platten des Jahres.
SunnO))), die sich in Interviews auf Avantgarde-Komponisten wie Steve Reich und La Monte Young berufen, sind Popstars. Warum nur finden so viele Leute eine Musik gut, die ohne Harmonien, ohne Melodien und ohne Songstrukturen auskommt? Über Steve Reichs minimalistische Exerzitien empörten sich immerhin noch Teile des Publikums. Wie jene Frau, die 1973 den Abbruch einer Aufführung von Reichs "Four Organs" in der New Yorker Carnegie Hall erzwingen wollte, indem sie mit ihrem Schuh auf die Bühne hämmerte. Das Publikum bei SunnO)))-Konzerten dagegen, so hat die New York Times beobachtet, "presst die Lippen zusammen und schließt die Augen, als stände es in einem Sturm". Mächtige Bässe pumpen Luft gegen die Rippen und machen das Atmen schwer. Man fühlt diese Musik körperlich. Nicht jeder hält das aus.
Man kann in SunnO)))s skelettiertem Doom Metal einen musiktheoretischen Beitrag sehen. Die düstere Dröhnung dekonstruiert nämlich vor allem live eine konventionalisierte Hierarchie unserer Sinneswahrnehmungen, auf die der Filmtheoretiker Christian Metz hingewiesen hat: Seh- und Tastsinn stehen für Anwesenheit und Nähe, während das Gehör lediglich ein Gefühl der Abwesenheit vermittelt und daher dem Sehsinn stets untergeordnet bleibt. SunnO))) stellen sich dieser Abwertung des Akustischen entgegen, indem sie auf eine "akousmatische" Aufführungspraxis zurückgreifen, die der Komponist und Klangtheoretiker Pierre Schaeffer bereits Pythagoras zugeschrieben hat. Angeblich verbarg sich der antike Wissenschaftler während seiner Vorträge hinter einem Vorhang, seine Schüler blieben ganz auf ihr Gehör verwiesen.
In dichtem Nebel
SunnO)))s Vorhang besteht aus einem dichten Nebel, in dem sich die Musiker auf der Bühne allenfalls ahnungsweise erkennen lassen. An die Stelle des machtlosen Gesichtssinns tritt der kinetische Drone-Sound, dessen niederfrequente Schwingung dem Klangerlebnis eben jene körperliche Präsenz verleiht, die ihm normalerweise fehlt.
Die monolithischen "drones" verfügen über eine erhabene Sinnlichkeit, die sich jedem begrifflichen Zugriff entzieht. Drone-Musik befasst sich denn auch nicht selten mit Naturphänomenen, die eine ähnliche Überwältigung des Menschen bedeuten.
Ästhetik des Erhabenen
"Altar" sollte eigentlich eine Platte über Vulkane werden. Boris und SunnO))) tauschten zunächst Bilder aus, bevor sie sich an deren klangliche Umsetzung machten. Von dieser ersten Konzeption ist der knapp zehnminütige Opener "Etna" erhalten geblieben, der einen Vulkanausbruch lautmalerisch nachvollzieht. Zäh wie Lava fließen die düsteren Riffs in mehreren, immer wieder neue Wege suchenden Strömen dahin, bis sich nach gut drei Minuten mit dem ersten Schlagzeugwirbel die Eruption anzukündigen beginnt. Schlacke und Geröll prasseln unrhythmisch auf die Flanken des Klangmassivs. Nach sechs Minuten und 17 Sekunden endlich brechen verzerrte Gitarren aus dem porösen Erdmantel, um schon bald in gellenden Obertönen zu verglühen. Diese Musik, die zugleich begeistert und erschreckt, ist der Beitrag des Heavy Metal zur Ästhetik des Erhabenen.
Mit ihrer Kunst, die den Hörer bewusst überfordert, stehen SunnO))) und Boris keineswegs alleine da. Ob Heavy Metal, atmosphärische Elektronik oder urbane Disco-Bastarde: Überall stimmen Musiker mit Versatzstücken der klassischen Avantgarde ins Klagelied ein.
John Twells zum Beispiel, der sich Xela nennt, ist Komponist, Musiker und Betreiber des britischen Labels Type. Als Haupteinflüsse gibt er an: Soundtracks italienischer Horrorfilme, irrlichternde Folk-Americana, moderne Klassik, Sonic Youth und Death Metal. Auf Type veröffentlicht der frühere Kunststudent auch Piano-Alben und zeitgenössische Orchestermusik. Xelas aktuelle eigene Platte namens "The Dead Sea" ist der Soundtrack zu einem imaginären Film, ein eklektizistisches Meisterstück, das gefundene oder mit dem Diktiergerät aufgenommene Tonaufnahmen ("field recordings"), osteuropäische und nahöstliche Saiteninstrumente wie Cymbalon und Baglama, eine verträumte Akustik-Gitarre, atmosphärische Synthesizer-Elektronik und, so Xela selbst, "Percussion auf Töpfen und Pfannen" kongenial miteinander verbindet.
Ohne jeden Gesang erzählt "The Dead Sea" die Geschichte einiger Schiffbrüchiger, die auf einer ansonsten verlassenen Insel in die Hände von Zombies geraten. Früher hieß so etwas "Konzeptalbum" und galt spätestens seit den 80er-Jahren als Inbegriff des Grauens.
Von hinterwäldlerischem Bardentum oder geschraubten Konzepten jedoch findet sich bei Xela keine Spur. Stücktitel wie "Savage Ritual", "Sinking Cadavers", "Watching a Light in the Distance" und am Ende natürlich "Never Going Home" lassen vielmehr einen Handlungsverlauf erahnen, der zu faszinierenden Melodien durch Knistern, Klappern, Schaben und Plätschern fast schon hörspielhaft umgesetzt wird. "The Dead Sea" ist große Kunst aus C-Movie-Versatzstücken und zweifellos eine der Platten des Jahres.
Surrealistisches Nachtstück
Konkurrenz erwächst Xela allerdings im eigenen Haus. Der Norweger Erik K. Skodvin hat unter dem Künstlernamen Svarte Greiner ein surrealistisches Nachtstück namens "Knive" komponiert, das Xelas Zombie-Robinsonade an atmosphärischer Dichte und lautmalerischer Konsequenz sogar noch übertrifft. "My feet, over there" wird etwa dominiert von einem pochenden, hin und wieder quietschenden Sägen.
Auch Greiner arbeitet häufig mit gefundenen Geräuschen, die er in einem Sequencer-Programm am Computer bearbeitet und mit einer wärmenden Gitarre sowie einem nervösen, manchmal pathetisch ausgreifenden Cello zu kinematischen Klangbildern versetzt. "Knive" ruht auf dem leisen Pfeifen eines Tonbandgeräts und auf dem ständigen Knistern einer alten Schallplatte. Manchmal ist dumpfes Schlagwerk vernehmbar. Im elegisch trauernden, neuneinhalbminütigen "The Black Dress" sind zwischen Orgel und Glockenspiel auf einmal ungleichmäßige Schritte auf einem Kirchenboden zu hören. Am Ende von Greiners kühnem Hörfilm erhebt sich eine majestätische Frauenstimme zum "Final sleep".
Als Svarte Greiner Anfang Oktober mit seinem Projekt Deaf Center in Brüssel spielte, jagten die im Computer prozessierten Bässe durch die Kuppel des königlichen Planetariums, während Evolutionsgeschichte und Sternbilder als Projektionen vorüberzogen. Für Svarte Greiner wird das Weltall zum Resonanzraum seiner erhabenen Klangästhetik.
Soundtrack zum urbanen Leben
Nicht alle Protagonisten der neuen Düsterheit musizieren freilich vor einem in Black oder Doom Metal getränkten, naturreligiös angehauchten Hintergrund. Auf dem selbstbetitelten Debütalbum des Londoners Burial etwa tritt an die Stelle der Erhabenheits- und Naturmetaphorik das in düstere Klangwelten übersetzte Erlebnis der britischen Metropole. "Distant Lights" heißt ein Stück, "Night Bus" und "Broken Home" andere. "Burial" ist finstere elektronische Tanzmusik, der Soundtrack zum urbanen Leben im neuen Jahrtausend.
Es ist zugleich eines der allerersten Alben der britischen Dubstep-Szene, die sich, von Südlondoner Clubs ausgehend und unter Mithilfe von Piratensendern wie Rinse FM sowie den Kulturprogrammen der BBC, zu einem festen Bestandteil der britischen Musiklandschaft entwickelt hat. Dubstep ist, wie sein Name schon sagt, eine Verbindung ganz gegensätzlicher Musikstile. Dub, eine Fortentwicklung des Reggae, entstand ursprünglich in Jamaika, als man Stücke produzierte, zu denen erst später, während der Aufführung, unterschiedliche Textbeiträge live improvisiert werden sollten.
Diese instrumentalen Reggae-Tracks entwickelten sich schnell in eine immer abstraktere Richtung, vertieften die ohnehin schon dominanten Bässe und fügten oft Hall hinzu, um einen dreidimensionalen Klangraum zu erzeugen. Das Step in Dubstep dagegen geht auf Two-Step zurück, eine Spielart von UK-Garage, die typischerweise im zweiten und vierten Beat jedes Takts die Bassdrum durch eine scheppernde Snare ersetzt, was einen trippelnden, stolpernden Rhythmus erzeugt.
Die fast ausschließlich instrumentalen Dubstep-Tracks sind mit rund 120 Beats pro Minute für die Tanzflächen eigentlich viel zu träge. Die brachiale Gewalt der minimalistischen, nur gelegentlich mit simplen Synthesizer-Melodien verzierten Kompositionen ist dennoch so intensiv, dass Dubstep die Tanzflächen füllt. Bis vor kurzem waren die meisten Stücke nur als unveröffentlichte DJ-Kopie zu haben, als sogenannte Dubplates in Auflagen von wenigen Dutzend Exemplaren.
Wackelnde Wände
Mit "Burial" wird Dubstep nun für eine breitere Öffentlichkeit interessant. Man kann das Album unmöglich in akzeptabler Lautstärke hören, ohne dass Wände wackeln und Fensterrahmen mitschwingen. Gesungen wird nie, einmal stammelt ein MC namens Spaceape einige Brocken. Zwischen einzelnen Beats lichtet sich der Bassdruck immer wieder und schafft Luft für ein Rauschen und Knistern, das die Platte wie ein zufällig mitgeschnittenes Tondokument aus einer untergehenden, verregneten Metropole klingen lässt. Auf dem Plattencover ist ein gezoomtes Seestück über eine Luftaufnahme Londons montiert. Der urbane Raum pulsiert nicht mehr, sondern ist leer, verlassen, unheimlich.
Härte durch Langsamkeit
Was haben düstere Drones, wabernde Dubstep-Bässe, elektronische Horror-Erzählungen oder der eklektizistische "acoustic doom" von Svarte Greiner gemeinsam? Sie alle erzeugen Härte durch Langsamkeit, geben ihre düstere Gestimmtheit schon in der dunklen, oft monochromen Covergestaltung zu erkennen. Die Künstler verzichten weitgehend auf Gesang und verfallen auf das musikalische Vokabular der Avantgarde, wenn sie nach angemessenen Ausdrucksformen für die heutige Wirklichkeit suchen. Häufig wird dabei ein rauer Bass analog oder digital gedehnt, vertieft und in seiner Körnung ausgekostet. Der Klang erhält dadurch haptische Qualitäten, er gewinnt eine Körperlichkeit, die das Hörerlebnis zur synästhetischen Erfahrung ausformt.
Nachbardisziplinen wie Kunst und Philosophie, die sich auf zeitgenössische Musik beziehen, müssen sich nicht mehr zwischen hohlen Hits und blutleeren Akademika entscheiden, sondern finden eine über sich selbst hinausgehende Popmusik vor, die sich lustvoll bei den verschiedenen Spielarten populärer Genres bedient, diese mit Erfolg bei ihrer Zielgruppe neu definiert und die bei alldem auch noch ganz genau weiß, was sie da tut. Während sich freilich Drones und Ambient-Elektronik dem Natürlichen und Elementaren zuwenden, bedient sich Dubstep einer Großstadt-Motivik, der sie einen neuartigen akustischen Gegenpart hinzufügt. SunnO))), Boris, Xela und Svarte Greiner erzählen mit Musik beispielsweise vom Ausbruch des Vulkans oder von der Katastrophe der Schiffbrüchigen, Dubstep dagegen zelebriert programmatisch Serialität und Monotonie.
Im Dickicht der Städte
Auch die Bildsprachen der CD-Covers unterscheiden sich. Drones und Ambient-Elektronik vermischen die grotesken Elemente des Surrealismus mit gängigen Motiven aus Horrorfilm und Black oder Doom Metal: Xelas "Dead Sea" zeigt, schwarzweiß gezeichnet, zwei Ertrinkende, die unter Wasser von Zombies attackiert werden. "Altar" illustriert ein Nachtstück, in dem Schemen mit schwarzen Kapuzen hinter einem dürren Baum prozessieren. Im Unterschied dazu setzen Dubstep-Platten, sofern hier schon ein Trend auszumachen ist, zwar ebenfalls auf gedeckte Farbtöne, bevorzugen jedoch - wie im Falle der jüngst erschienenen Genre-Übersicht "Tectonic Plates" - glatte, abstrakte Flächen. In Gestalt tektonischer Platten, an denen man abrutschen kann, nistet das Erhabene auch im wuchernden Dickicht der Städte.
Burial: Burial. Hyperdub. Bestellnummer 5024545413021.
SunnO))) & Boris: Altar. Southern Lord.
Bestellnummer 80872000622.
Svarte Greiner: Knive. Type. Bestellnummer 182270000291.
Various Artists: Tectonic Plates. Tectonic.
Bestellnummer 5060096471066.
Xela: The Dead Sea. Type. Bestellnummer 182270000321.
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