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In Ottawa haben die Stuttgarter Neuen Vocalsolisten zusammen mit Inuit-Sängerinnen eine Komposition des Kanadiers Gordon Williamson uraufgeführt. Im November stellen sie das Werk auch in Stuttgart vor.

StuttgartWo Puvirnituq liegt, wussten die Neuen Vocalsolisten aus Stuttgart vor ein paar Monaten noch nicht. „Das war für uns kein Begriff“, räumt Andreas Fischer, Dirigent und Bass, ein – was keine Schande ist, denn nur wenige Kanadier wären in der Lage, Puvirnituq auf der Landkarte zu finden. Aber jetzt wissen die Stuttgarter, wo die kanadische Arktisgemeinde liegt, dank einer bahnbrechenden künstlerischen Kooperation.

Puvirnituq ist eine 1500 Einwohner zählende, von Inuit, den Ureinwohnern der Arktis, bewohnte Siedlung am Ostufer der Hudson Bay im Norden der Provinz Quebec. Die abgelegene, nur mit Schiff oder Flugzeug zu erreichende Gemeinde hat einiges zu bieten: eine tolle Landschaft und – Kunst. Intensiv gepflegt wird hier das Throat-Singing, der Kehlgesang. Lisa-Louise Ittukallak und ihre Cousine Winnie Ittukallak praktizieren die traditionelle Gesangsform seit ihrer Kindheit. „Unsere Großmutter hat uns angehalten, Kehlgesang zu lernen“, sagt Winnie Ittukallak. Noch vor wenigen Jahrzehnten drohte diese Gesangstechnik unterzugehen. Mit dem Erstarken der politischen Bewegung der Inuit erlebte das Throat-Singing aber eine Renaissance. Heute hat es viele Freunde auch außerhalb der Arktis gefunden.

Ausgeübt wird Throat-Singing von Frauen, die sich gegenüberstehen und singen: Sie imitieren die Geräusche der Natur, des Windes, der Flüsse und der Tiere und erzählen Geschichten. Meist endet der anstrengende Kehlgesang im Lachen. Er war wichtiger Bestandteil des Zeitvertreibs der Familien an Winterabenden, wenn die Männer auf Jagd waren, er war Spiel und Wettbewerb zugleich. Auch 2015 bei Justin Trudeaus Amtseinführung als kanadischer Premierminister wurde Kehlgesang präsentiert.

Winnie und Lisa-Louise Ittukallak sind in ihrer Gemeinde aufgetreten und in anderen Regionen der Arktis, aber auch international haben die beiden Frauen einen Namen. Den Kontakt mit den Vocalsolisten aus Stuttgart stellte der kanadische Komponist Gordon Williamson her, der an der Hochschule für Musik in Hannover lehrt. Williamson knüpfte über das National Art Centre in der kanadischen Hauptstadt Ottawa Kontakt mit den Kehlsängerinnen. „Ich war immer an neuen Klängen interessiert und wollte mehr vom Throat-Singing erfahren“, sagt er. So entstand die Idee, den Stil der ihm vertrauten Neuen Vocalsolisten und den Kehlgesang in einem Werk zusammenzuführen.

Im Sommer vergangenen Jahres reiste Williamson nach Puvirnituq und traf Winnie und Lisa-Louise. Er begann, an dem Werk zu arbeiten, das er „New Vocal Encounters“ nannte, „neue gesangliche Begegnung“. Im Dezember kam Lisa-Louise zu einem Workshop nach Stuttgart, jetzt ist das Werk in Montreal und Ottawa uraufgeführt worden.

„Wir haben noch nie mit Nicht-Inuit oder gar mit Opernsängern zusammen gesungen“, sagt Winnie Ittukallak. „Es war nicht leicht für uns, unseren Gesang mit dem des Ensembles zu verbinden“, ergänzt Lisa-Louise Ittukallak. Und für Gordon Williamson ist es „eine Begegnung von zwei Extremen“ – wobei Klänge und Laute der beiden Kulturen hörbar gut zusammenpassen. Die Sänger ergänzen sich, fallen in den Gesang des jeweils anderen ein und wechseln ihre Positionen, so dass Stuttgarter die Rolle der Inuit übernehmen und das traditionelle Gegenüber beim Gesang aufbrechen.

„Wir haben die Idee von Gordon, mit Throat-Sängerinnen aus Kanada zusammenzuarbeiten, gerne aufgegriffen“, sagt Andreas Fischer. Er kennt Kehlgesang aus anderen Regionen der Welt, aber: „Mit Inuit hatten wir noch nie gearbeitet.“ Dass sie eine solche Klangfülle abrufbereit haben, erstaunte die Vocalsolisten, die sich engagiert auf den spielerischen Gesang einstellten und ihn ergänzten.

Paris und New York geben Winnie und Lisa-Louise Ittukallak an, wenn sie gefragt werden, wo sie gerne auftreten möchten. Bereits gebucht sind Stuttgart und Hannover. In den beiden deutschen Städten werden sie im November gastieren, um Williamsons „New Vocal Encounters“ aufzuführen. „Unser Publikum ist an Neuer Musik interessiert und kommt mit offenen Ohren. Ich bin sicher, dass das Konzert gut ankommen wird“, ist Fischer überzeugt.

Die Stuttgarter Aufführung findet statt am Montag, 4. November, 20 Uhr, im Theaterhaus.