Foto: Alex Wunsch - Alex Wunsch

Regisseurin Hannah Biedermann macht am Jungen Ensemble Stuttgart aus Gertrude Steins experimenteller Poesie ein assoziatives Vergnügen für Zuschauer ab sechs Jahren.

StuttgartAus einem raschelnden Papierberg erhebt sich ein blauer Stuhl. Wie welke Herbstblätter bedecken die blassbraunen Bögen die Hüpfburg, auf der die Schauspieler des Jungen Ensembles Stuttgart (JES) die Geschichte des Mädchens Rose erzählen. „Rose ist eine Rose ist eine Rose“ heißt die neue Stückentwicklung der jungen Regisseurin Hannah Biedermann. Dabei stellt die innovative Künstlerin die Welt der Kinder buchstäblich auf den Kopf. „Die Welt ist rund“, das 1939 erschienene Kinderbuch der amerikanischen Avantgardistin Gertrude Stein, dient als Grundlage für das kluge, sinnliche Theater für Kinder ab sechs Jahren.

Still und konzentriert sitzen die Jungs und Mädchen im Saal. Dann gerät plötzlich das tote Packpapier in Bewegung. Bühnenbildnerin Mascha Mihoa Bischoff hat einen zauberhaften Bühnenraum geschaffen, der schnellen Wandel möglich macht. Aus dem Haufen, der eine runde Hüpfmatte bedeckt, tauchen die Köpfe der Spielerinnen Anna-Lena Hitzfeld, Marie-Christin Sommer und ihres Kollegen Faris Yüzbasioglu auf. Ihre Wortspiele entlocken den Kindern ein befreites Lachen.

Gertrude Stein, in ihrer Wahlheimat Paris als wohlhabende Kunstsammlerin und Förderin der Literatur bekannt, stellte in ihren Werken literarische Konventionen auf den Kopf. Damit forderte sie die Literaturszene der damaligen Zeit heraus. Das Kinderbuch schrieb sie als Auftragswerk. Plötzlich erscheint die Welt für die kleinen Leserinnen und Leser in einem ganz anderen Licht. In der kindgerechten Bühnenfassung setzen Hannah Biedermann, Lucia Kramer und das Ensemble die radikale Poesie stark in Szene. Marie-Christin Sommers Musik wühlt auf. Sie nimmt die Kinder auf eine Reise in ihre eigene Seelenwelt mit. Plötzlich springt ein Löwe mit blauer Mähne ins Bild, und das ist ganz selbstverständlich. Weshalb sehen wir das Leben so, wie es ist? Mit dem Vers „Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“, den Stein 1913 zum ersten Mal in einem Gedicht benutzte, wurde sie berühmt. Ihre lustvollen Spiele mit der Sprache reizen Biedermann, die 2017 mit „Entweder, und“ für das JES den deutschen Theaterpreis gewann. Da spielte die junge Regisseurin mit den Geschlechterrollen, in die Jungs und Mädchen von der Gesellschaft gezwängt werden. Beherzt zertrümmerte sie Gender-Klischees. Gesellschaftliche Themen packt Biedermann engagiert an. In ihren Theaterarbeiten findet die Künstlerin, die mit ihrem Kollektiv Pulk Fiction ihre innovative Ästhetik entwickelt, bemerkenswerte Bilder.

Anna-Lena Hitzfeld stattet das Mädchen Rose, das einen Berg besteigt, mit Sensibilität und Stärke aus. Die Darstellerin träumt und tanzt sich wundervoll in die Welt des Kindes hinein. Ihre Heldin begibt sich auf die abenteuerliche Reise ins Erwachsenwerden. Faris Yüzbasioglu und Marie-Christin Sommer jonglieren virtuos mit Steins Sprachbildern. Verführerisch spricht das Ensemble die Sätze, die erst dann einen Sinn ergeben, wenn man die eigene, bekannt geglaubte Welt auf den Kopf stellt. Kunterbunt gefleckte Kostüme, die ebenfalls Mascha Mihoa Bischoff kreiert hat, signalisieren, dass in dieser Welt nichts so ist, wie es scheint. In Steins Buch ritzt das Mädchen den Satz „Rose ist eine Rose ist eine Rose“ in einen Baum. Sie wiederholt ihn, weil der Baum rund ist und weil da noch Platz bleibt. Am Ende drücken die Spielerinnen und Spieler den Kindern Buchstaben in die Hand, aus denen ein Satz entsteht. Es ist die verführerische und alles andere als belehrende Einladung, der Welt und dem Leben einen Sinn zu geben – und nicht dem zu folgen, was die Konvention vorgibt.

Schön zeigt auch Hannah Biedermanns jüngste Produktion für das JES, was Ästhetik für das Kinder- und Jugendtheater bedeutet. Es geht darum, eigene Bilder zu finden, die zugleich Kinder ansprechen. Gertrude Steins experimentelle Texte, die Literaturwissenschaftler bis heute herausfordern, bricht die Regisseurin herunter auf Assoziationen, die sich den kleinen wie auch den großen Zuschauern leicht erschließen. Dass dieses Experiment im JES glückte, liegt nicht zuletzt an der starken Leistung eines Ensembles, das die komplexe literarische Welt Gertrude Steins in betörend schönes Körpertheater übersetzt.

Die nächsten Vorstellungen: 27. und 28. Februar, 10.30 Uhr. 3. März, 15 Uhr. 7. Mai, 10 Uhr. 8. und 9. Mai, 10.30 Uhr.