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Im Stuttgarter Staatstheater tritt die Schauspielerin Josephine Köhler zusammen mit der Electro-Clash-Sängerin in den „Sieben Todsünden“ auf.

StuttgartDie Rolle kennt kein Pardon. Sie fordert die ganze Frau. Kopf, Herz, Stimme und: Körper. Man konnte das bei der Premiere sehen, als die Schauspielerin Josephine Köhler den Schlussapplaus mit blutigen Knien entgegennahm, so sehr hatte sie sich in den anderthalb Stunden zuvor verausgabt, so heftig mit dem Tänzer Louis Stiens gefightet, Haken ausgeteilt und eingesteckt – in einem Boxring, den die Regisseurin Anna-Sophie Mahler als sozialdarwinistische Arena für die „Sieben Todsünden“ gewählt hat. Die lädierten Knie, sagt Köhler, seien nicht die einzige Verletzung bei der Arbeit am Brecht-Weill-Stück gewesen. Vor allem die Proben hätten es in sich gehabt. „Nach fünf Stunden Kampfchoreografie macht der Körper nicht mehr mit. Aus Unvorsichtigkeit und Müdigkeit holst du dir Zerrungen und Blessuren“, sagt die taffe Schauspielerin, der eine verunglückte Bühnenprügelei mit Stiens sogar ein blaues Auge einbrachte.

Voller Körpereinsatz

Der volle Körpereinsatz hat sich gelohnt. „Die sieben Todsünden“, eine Gemeinschaftsproduktion von Schauspiel, Oper und Ballett der Stuttgarter Staatstheater, erweisen sich als enormer Erfolg. Die Vorstellungen sind restlos ausverkauft, auch deshalb, weil zu den Akteuren der kapitalismuskritischen Inszenierung auch eine radikale Performerin und Frauenrechtlerin gehört: Peaches, die aus Kanada stammende, in Berlin lebende Electro-Clash-Sängerin, der in dem Stück eine zentrale Rolle zukommt. Von den vier Annas auf der Bühne ist Peaches als handlungstragende die wichtigste. Wichtig ist sie obendrein, weil sie das vierzigminütige Singspiel mit ihrer eigenen Show zum abendfüllenden Neunzigminüter macht. Auf Brecht/Weills „Sieben Todsünden“ folgen ihre „Seven heavenly Sins“, die mit wummernden Bässen, schrillen Kostümen und expliziten Texten den sexuellen Tabubruch als Befreiung feiern. Der Erfolg der Inszenierung ist aber auch ein Verdienst Josephine Köhlers, der Frau an Peaches Seite.

Das blaue Auge indes hätte nicht sein müssen. Während der Proben kam jeden Morgen ein professioneller Boxtrainer vorbei, um Köhler und Stiens nicht nur die richtige Angriffstechnik, sondern auch die richtige Verteidigungshaltung beizubringen. Nun ja, Shit happens – wobei sich Köhler, die im Sommer 30 wird, mit halben Sachen sowieso nicht abgibt. In dem „satirischen Ballett mit Gesang“ muss sie sich rollengemäß im kapitalistischen Amerika verdingen, um ihrer Familie das Häuschen zu finanzieren. Von Todsünde zu Todsünde, von „Faulheit“ bis „Neid“, boxt sie sich dabei durch Moralpredigten, die dazu dienen, das System zu stabilisieren. Im fünften Bild etwa wird ihrer Anna beigebracht, dass Geld wichtiger ist als Liebe, die als „Unzucht“ verurteilt wird. Kalkül siegt über Gefühl – und Köhler unterbricht den Clinch mit Stiens und singt einen Weill-Song: Den Schmerz über den Lauf der Welt packt sie in trockene Traurigkeit, nach dem durchtrainierten Körper auch ihren herrlichen Gesang virtuos in den Ring werfend.

Doch damit nicht genug. In ihrem ureigenen Handwerk, dem Sprechen, bringt es Köhler ebenfalls zur Meisterschaft. Man vergisst das Atmen, wenn sie im Schauspielhaus aus der „King Kong Theorie“ von Virginie Despentes zitiert, die als Scharnier zwischen Singspiel und Peaches-Show dient. Aber was heißt schon zitieren? Mit jeder Faser ihres Körper durchlebt sie auf der Bühne Satz für Satz und lädt das radikalfeministische Pamphlet mit Authentizität auf. Und jetzt in der Theaterkantine darum gebeten, wiederholt Köhler – raue Stimme, breites Gesicht und schmale, weit auseinanderliegende Augen – eine der eindrucksvollsten Passagen ihres Despentes-Textes: „Ich schäme mich nicht dafür, keine besonders tolle Frau zu sein, aber es macht mich rasend, dass man mir als Frau ständig zu verstehen gibt, dass ich als Frau eigentlich gar nicht da sein sollte. Denn wir waren immer da. Ich spreche als Proletin der Weiblichkeit.“

Das sitzt – als Plädoyer, das von tiefen Erfahrungen beglaubigt wird, nicht als theoretisches Manifest wider das Patriarchat, das am Schreibtisch ersonnen wurde. Am Anfang, sagt Köhler, habe sie mit dem Monolog gefremdelt. „Ich fand, er gab in seiner Unbedingtheit nicht viel her – bis ich kapierte, dass ich ihn als hoch ehrlichen Text begreifen muss: als Text einer Frau, die aus der von Brecht/Weill geschilderten Männerhölle kommt und jetzt eins und eins zusammenzählt.“ Und genau diese Sprechhaltung nimmt Köhler auf der Bühne ein, sie setzt Pausen und Zäsuren und geht mit Vorsicht und Bedacht durch die Despentes-Sätze, die sich in ihrer präzisen Darstellung nicht mehr zu einem Wutmonolog der Provokationen, sondern der Erkenntnisse formieren.

„Intelligenz ist sexy, nicht der Body“

Josephine Köhler, 1989 in Dresden geborenen, weiß, worüber sie als „Proletin der Weiblichkeit“ spricht. In Nürnberg, wo sie bis 2018 engagiert war, ehe sie Burkhard C. Kosminski nach Stuttgart holte, leitete sie als Schauspielerin den Jugendclub des Staatstheaters. Was sie dort von jungen Mädchen hörte, schockierte sie: Bin ich schön genug? Sind meine Brüste groß genug? Soll ich mich operieren lassen? Das waren die Fragen, mit denen sich die weiblichen Jugendclub-Mitglieder plagten: „Sie waren vollkommen uneins mit sich. Der Perfektionswahn hat Verheerungen in den Köpfen und Seelen der Mädchen angerichtet“ – und eben deshalb findet sie die „King Kong Theorie“, die sich entschieden gegen das „männliche Konstrukt von Weiblichkeit“ wehrt, so wichtig. „Scheiß der Hund drauf, ob ich lange Beine habe“, platzt es aus Köhler heraus, „Intelligenz ist sexy! Charisma ist sexy! Nicht der angeblich perfekte Body“ – womit Köhler umweglos zur schrillen Peaches-Performance hinüberleitet, in der ein sexuell enthemmtes, aber von fremdbestimmenden Männerblicken gereinigtes Rollenbild gefeiert wird.

In der surrealen Sexshow der Kanadierin übernimmt Köhler den Job eines Go-Go-Girls mit transparenter Bluse. „Wer mit Peaches arbeitet, verliert jede Scham“, sagt sie mit Verwunderung über sich selbst – und mit Bewunderung für die mutige Künstlerin, hinter deren Statement sie mit vollem Körpereinsatz steht. Das zählt. Zum Beweis bedarf es auch keines zweiten Veilchens. Ein Despentes-Monolog, hochpräzise vorgetragen, genügt.

Weitere (ausverkaufte) Vorstellungen: 2., 10., 23. und 30. März. Das Staatstheater bemüht sich um eine Wiederaufnahme in der kommenden Spielzeit.