Schaumbad im Sarg vor endlos gespiegeltem Vater-Tyrannen: Nina Siewert als Julia und Klaus Rodewald als Capulet. Foto: Thomas Aurin - Thomas Aurin

Der Regisseur durchkreuzt im größten aller Liebesdramen jegliche Shakespeare-Romantik: Das Paar wird zombiehaft durch seine Love Story getrieben, und Romeo ist eigentlich schwul.

StuttgartDamit eines mal gleich klar ist: Romeo ist schwul. Bereits vor dem noch geschlossenen Vorhang knutscht er heiß und innig mit Tybalt, dem Haudegen aus dem verfeindeten Capulet-Clan. Nackig ziehen sich die beiden jungen Männer aus, der eine ein scheinbar softer Beau mit wallendem Haar und schwellendem Aggressionspotenzial (David Müller als Tybalt), der andere ein taffer und zugleich leicht linkischer Adoleszenz-Apoll (Jannik Mühlenweg als Romeo). Nackt, aber kein Akt: Die anstehende Männerpaarung verhindert Romeos Bekenntnis „Ich liebe eine Frau!“, schreikrampfig wiederholt in Tybalts Wut- und Verzweiflungsecho. Hat da einer seine wahre heterosexuelle Identität entdeckt, zur abgrundtiefen Enttäuschung des Geliebten? Oder verdrängt er seine Homosexualität? Überschreibt die Geschichte einer großen und verbotenen Liebe – Shakespeares „Romeo und Julia“ – eine noch größere und noch verbotenere, eine gleichgeschlechtliche Liebe? Letzteres scheint die Ausgangsbehauptung des Regisseurs Oliver Frljic ´ zu sein, dem es in seiner Inszenierung im Stuttgarter Schauspielhaus augenscheinlich darum geht, die Love Story aufzuladen zum radikalen Protest, zur tödlich konsequenten Absage an alle Verstrickungen von Macht, Gesellschaft und Gewalt.

Verdoppeltes Liebesverbot

Deshalb sattelt Frljic ´ auf das vom Sippenzwist verhängte Liebesverbot ein viel fundamentaleres, ein biopolitisches Verbot drauf – das der Homosexualität. Deshalb gleicht der tödliche Stich, den Romeo ganz ohne Dolch im Gewande dem Tybalt verpassen wird, einem Liebestod. Deshalb ist aber auch Romeos und Julias Liebe von Anfang an tot – weil sie keine ist, sondern die Verdrängung eines anderen Begehrens. Das tragische Finale in der Gruft des toten Paars steht bei Frljic ´ daher am Beginn der Handlung. Und die wird weniger aus der Erinnerung rekapituliert, vielmehr zombiehaft nachgespielt in spätmittelalterlichen Graugewändern samt entsprechenden Frisuren und Kopfhauben. Sieht aus wie aus alten Gemälden geschnitten, erst recht wenn ein ganzer Trupp von sogenannten Hieronymus-Bosch-Gestalten aus dessen „Garten der Lüste“ herbeizitiert wird und sein alpträumerisch-stummes Bühnenunwesen treibt (Kostüme: Sandra Dekanic ´). Intimität, Verborgenes und Geheimes haben in dieser Sterbenswelt keinen Ort, auf der Szene sind meistens alle Personen der Handlung, die ihnen ohnehin bekannt ist. Gespielt wird nicht die Suggestion von Ränken, Finten und Überraschungen, sondern die Anti-Suggestion gespenstischer Figuren, die wieder mal durch ihren eigenen Text spuken. Es ist das Wiederholungsritual eines alten, traurigen Märchens. Und wenn sie nicht gelebt haben, dann sterben sie noch heut’.

Was sagt uns das? Zunächst: Wer gehofft – oder gefürchtet – hat, dass mit der neuen Intendanz Burkhard C. Kosminskis Postdramatik und Performance von der Stuttgarter Staatsschauspielbühne verbannt sind, dem wird in Frljic ´s Inszenierung ein anderer Bescheid gestoßen. Video-Orgien und Fremdtexte (mit Ausnahme eines kleinen Heiner-Müller-Zitats) bleiben zwar außen vor, aber der Regisseur hat Shakespeares Drama durchaus nach Manier der Dekonstruktion zerlegt und ausgebeint: teilweise verkopft, manchmal undeutlich, bisweilen zäh – aber auch mit beklemmender Spannung. Frljic ´ fahndet nach dem Drama hinter dem Drama, er lauscht auf die Abgründe zwischen den Zeilen, er macht sich auf den Rest, der Schweigen ist, seinen eigenen Reim: den das Traumas, das keine Sprache hat. Er durchkreuzt, was die Shakespeare-Romantik sehen will: Eine sentimentalische Liebesgeschichte erhebt sich mit ihrem natürlichen Recht über die blutige Familienräson und stiftet im Todesopfer Läuterung und Versöhnung. Das eine – die bösen, bösen Familienbande – interessiert Frljic ´ nicht (oder nur als sehr ungefährer struktureller Hintergrund). An das andere – die Läuterung – glaubt er nicht.

Er glaubt an den großen Tod, nicht an den kleinen, jene Metapher des erotischen Höhepunkts. Der große Tod ist absolute Verneinung, Trauma ohne Worte – und Traum als letzte und einzige Freiheit, äußerster Fluchtpunkt vor gesellschaftlicher Gewalt. Sein Bild ist – wortwörtlich – das Vehikel für Romeos und Julias Liebe: der Sarg, ein Verkehrsmittel in jedem Sinn. Särge sind das Bett der Liebenden, mit Särgen kurven sie durch die Szene, im Sarg nimmt Julia ein Schaumbad, in einer schnell vergehenden Familienglück-Fantasie wird der Sarg zur Wiege fürs neugeborene Baby. Und die Poesie vom leichten und schwebenden Liebesglück, das nicht fallen kann, wird vom Sargrand herab verkündet, mit stierem Blick gen Boden den holden Wortlaut Lügen strafend.

Der wortlose Tod aber schreibt sich dem Leben ein, beim Capulet-Ball säuselt zwischen nostalgischem Salon-Menuett und lärmendem Disco-Stampf eine devot verehrte Pop-Ikone (Sandra Hartmann) mit vulkankegelhohem Riesenreifrock „Killing me softly“. Unterm Rock ist ein stählernes Kirchenbau-Gestänge, an dem Romeo den toten Tybalt über die Bühne schleift – ein recht vages religionskritisches Bild, während der hilfreiche Pater Lorenzo (Thomas Meinhardt) die humane Seite der Glaubensmedaille zeigt. Und zwar in einer Sozietät der Karikaturen: Mercutio und Benvolio (Christoph Jöde und Valentin Richter) sind ein Narren-Duo, Benjamin Pauquet gibt Julias Zwangsbräutigam Graf Paris als nachplappernden Trottel mit Schleife am Deets, Klaus Rodewald poltert den alten Capulet, Julias Vater, durch ein begrenztes Repertoire an autoritären Schreihals-Registern. Mit Schauspiel und Figurenzeichnung ist da nicht viel, Symmetrie der Clan-Häuptlinge gibt’s keine, Frank Laske als Montague ist nur ein schweigsamer Graubart.

Wiedergänger müssen wiederkäuen

Symmetrie stellt Frljic ´ durch Textwiederholungen her, die phrasenhaft von Mund zu Mund wandern: Die Wiedergänger müssen sie wiederkäuen. Ganz so, wie sie sich in Igor Pauskas grabsteinbestückter, ansonsten todesschwarz leerer Bühne in Endlosspiegelungen wiederfinden – getreu der Regie-Konzeptkunst, die immerhin Jannik Mühlenwegs Romeo und Nina Siewerts Julia darstellerische Räume öffnet. Beide sind jung, aber wirken nicht jugendlich, sondern trotzig abgebrüht im Spiel ohne Ende. Ihre Liebesszene wirbelt in furioser Gespanntheit Aggressives und Zweifelndes, Sehnsüchtiges und Gequältes durcheinander: eine Konfrontation mit sich selbst, die nur im gemeinsamen Suizid, einem verdämmernden Dreiklang von Nacht, Tod und unerfüllter Liebe, einen Ausweg fände. Wenn es kein Schein-Suizid wäre in der Wiederholungsschleife von Frljic ´s Shakespeare-Séance, die bei aller Fragwürdigkeit, bei allen Kopf-Totgeburten zumindest bedenkenswert und sinnigerweise gerade in der final-letalen Paarung schauspielerisch stark erscheint.

Die nächsten Vorstellungen: 28. November, 15., 19., 23. und 30. Dezember, 18., 25., 26. und 28. Januar.