Kahl ist das Lokal, in dem sich die Menschheit verliert: Szene mit (vorne, von links) Christiane Roßbach, Michael Stiller, Boris Burgstaller, Klaus Rodewald, Felix Strobel und Elmar Roloff. Foto: David Baltzer - David Baltzer

Ödon von Horváths kritisches Volksstück „Italienische Nacht“ von 1931 demaskiert am Ende der Weimarer Republik politische Haltungen. Calixto Bieito inszeniert das Stück am Stuttgarter Staatsschauspiel als beklemmende Warnung vor dem heraufziehenden Faschismus.

StuttgartDie Wacht am Rhein“ brennt noch beim Verlassen des Stuttgarter Schauspielhauses in den Ohren. Gleich alle sechs Strophen hat der Nazi Erich gegrölt, und die gesamte Statisterie hat lauthals mitgesungen. Der Nazi Erich hat an der Rampe gestanden, als hätte er einen Stock im Arsch, die Augen fanatisch geweitet. Sicher die bedrohlichste, unangenehmste Szene in Calixto Bieitos Inszenierung des kritischen Volksstücks „Italienische Nacht“, das Ödön von Horváth 1931 geschrieben hat, als die Weimarer Republik, geschwächt durch politische Instabilität, Massenarbeitslosigkeit und die unbewältigten Traumata des ersten Weltkriegs, bereits angezählt war.

Horváth nahm die Blindheit der demokratischen Kräfte vor dem aufziehenden Nationalsozialismus aufs Korn: Mitglieder des sozialdemokratischen „Schutzbundes der Republikaner“ beabsichtigen, einen bunten Abend, ihre „Italienische Nacht“, zu feiern und wollen sich dabei nicht in die Suppe spucken lassen. Derweil marschieren draußen die Faschisten auf und begehen ihren „Deutschen Tag“ – hörbar gemacht durch grelle Militärmärsche, die immer wieder das Geschehen torpedieren und live von einem fantastischen Bläsersextett gespielt werden (Musik: Barbora Horáková).

Streiten oder Kartenspielen

Derweil fühlen sich die Demokraten zwar immer wieder von den stampfenden Rhythmen aus dem Konzept gebracht, sind aber vor allem mit sich selbst, ihren Streitereien und dem Kartenspiel beschäftigt. Am Ende rücken die Nazis den Sozis auf den Leib, weil die das Denkmal des Kaisers „geschändet“ haben sollen. Noch kann der Kommunist Martin mit seinen Leuten Schlimmeres verhindern. Die hinzugefügte, ohrenbetäubend vorgetragene „Wacht am Rhein“ („Es braust ein Ruf wie Donnerhall, / Wie Schwertgeklirr und Wogenprall“) dröhnt aber mehr als deutlich in die Gehörgänge, wohin es in diesem Deutschland gehen wird.

Bieito belässt die „Italienische Nacht“ in ihrer Zeit. Die Faschisten tragen allerdings keine Uniformen, sondern Dreiteiler-Anzüge oder Pullunder und Krawatte (Kostüme: Sophia Schneider). Etwaige Parallelen zum heutigen tumben, immer dreister zur Schau gestellten Fanatismus der Rechten oder zur selbstgefälligen Phrasendrescherei politischer Amtsinhaber dürften sich in den Köpfen des Publikums ganz von selbst einstellen. Bieito hat Horváths bei aller zeitlichen Verortung genial zeitlosen Text mit dem Ensemble sehr genau auf seine Doppelbödigkeiten, seinen Rhythmus und seine Leerstellen abgeklopft und präzise in Szene gesetzt. Ein darstellerisch großartiger Abend.

Elmar Roloff etwa gibt den korrupten Stadtrat trefflich als spießigen, denkfaulen Kissenpupser: einer, der sich aufspielt als Demokratieverteidiger, aber in der Öffentlichkeit auf mieseste Weise seine Gattin demütigt. Klar, dass er feig und unterwürfig reagiert, als der Nazi Erich – plastisch verkörpert von Matthias Leja, dem Stuttgarter Spezialisten fürs Böse – ihn schikaniert. Da muss erst Stadtrat-Gattin Adele ran, bei Christiane Roßbach eine Frau, die ihre ehehöllische Situation durchaus analysieren kann und giftig zurückschießt, wirtschaftlich aber keinen Ausweg sieht für sich. Dennoch ist sie die einzige, die dem Nazi Paroli bietet: Sie brüllt ihn an, macht ihn zur Schnecke (wofür sie Szenenapplaus erhält). Und als sie mit ihrem Stadtrat am Ende Händchen haltend die Bühne verlässt, ist plötzlich klar, wer zuhause die Hosen anhat.

Einen dunkel-undurchschaubaren Charakter verpasst der phänomenal und subtil agierende Michael Stiller dem Demokraten Betz, dessen Bildungsgewäsch über Freuds Psychoanalyse und anderes gar nicht so nachgeplappert wirkt, wie es Horváth beabsichtigt hat. Stillers Betz kultiviert die Beobachterperspektive, bleibt distanziert und nicht ganz greifbar. Das ist offenbar ein Anliegen Bieitos: die Figuren, die in ihrer oft komisch verrenkten Sprache aneinander vorbeireden, nicht zu Karikaturen zu verkleinern. Es sind Menschen aus Fleisch und Blut.

So wie der Kommunist Martin (David Müller): einer dieser Selbstdarsteller, die sich als Weltretter aufspielen, aber ihr Umfeld ausbeuten und tyrannisieren. Ein Fiesling, wie er im Buche steht, der seine Braut auf den „politischen Strich“ schickt, damit sie dem Nazi Erich seine Pläne entlockt – mit furchtbaren Folgen. Anna ist ihrem Freund allerdings gar nicht so hörig, wie es zunächst den Anschein hat: Paula Skorupa spielt sie als selbstbewusste, wenn auch am Ende gebrochene Frau, die den selbstherrlichen Martin tief treffen und entlarven und eine verzweifelte Aggressivität in ihre Worte legen kann, etwa wenn sie ihn anfährt: „Red nicht so hochdeutsch.“ Explosives schlummert in allen Figuren. Da wird schon mal aus heiterem Himmel ein Mensch weggestoßen, so brutal, dass er im Fallen einen Biertisch mit sich reißt.

Von ganz besonderer Wirkung ist das Bühnenbild von Calixto Bieito und Helen Stichlmeir, das in eine geradezu schockierende Weite hineinblicken lässt: in ein riesiges, kahles Gartenlokal mit endlos lang scheinenden Reihen aus Biertischen und Bänken. Nebeldunst hängt in der Luft, die Szene ist kalt ausgeleuchtet, auch wenn Ketten hunderter Glühlampen brennen, die an dicken Masten befestigt sind. Eine bedrückende Weite, weil sich die Menschen im überdimensionierten Raum verlieren. Die zwölf Protagonisten und Protagonistinnen bleiben auf der Bühne, wenn sie gerade nicht an einer Szene beteiligt sind. Dann sitzen sie allein an den Tischen oder stehen in Ecken, legen sich selbst Tarotkarten oder rauchen und blicken gedankenverloren in die Leere. Als hätte sich Bieito von den frostigen Bildern Edward Hoppers inspirieren lassen.

Auch wenn die Bühne sich mit Statisten und Statistinnen füllt, sich zum Wimmelbild wandelt, wenn die „Italienische Nacht“ gefeiert wird, wirken die Menschen dort vereinzelt, einsam, isoliert. Sie tanzen nicht in Paaren, sondern im sicheren Abstand, steif und in merkwürdiger Gruppenformation, wie in Trance – auch dann noch, als die Musik schon schweigt.

Die nächsten Vorstellungen: 29. September, 2., 3. und 21. Oktober, 10., 13. und 17. Dezember.