Nijinsky wird wahnsinnig und malt nur noch Kreise: Rosario Guerra in Marco Goeckes Tanzstück über den berühmten Ballerino bei Gauthier Dance. Foto: Regina Brocke Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Nach der „Deutschen Bühne“, dem Hausblatt des Deutschen Bühnenvereins, setzt in der Spielzeitpause traditionell die Zeitschrift „tanz“ das Umfrage- und Auszeichnungskarussell fort, bevor die Kritiker von „Theater heute“ und der „Opernwelt“ ihre diesjährigen Besten verkünden. Beim Tanz ist Stuttgart mit seinen zwei Kompanien gut vertreten, wenn auch die Kritikerpreise der „professionellen Hingucker“ an andere gehen.

Zur Aufführung des Jahres wurde die moderne Neudeutung des alten Klassikers „Giselle“ gewählt, die Akram Khan, britischer Choreograf mit Wurzeln im indischen Tanz, beim English National Ballet herausbrachte; sie spielt zur Zeit der industriellen Revolution. Den Titel „Choreograf des Jahres“ heimst zum dritten Mal der Belgier Sidi Larbi Cherkaoui ein, dessen „Faun“ in dieser Spielzeit beim Stuttgarter Ballett zu sehen war; er schuf neue Stücke in Göteborg, Monte Carlo und bei seiner eigenen Kompanie in Antwerpen. Auch das Ballett am Rhein hat sozusagen ein Abonnement, wieder holte Martin Schläpfers Düsseldorfer Truppe den Preis als „Kompanie des Jahres“.

Eindringliches erzählerisches Mittel

Klarer Sieger beim erstmals abgehaltenen Publikumsvotum unter den Abonnenten der Zeitschrift wurde Marco Goeckes „Nijinsky“ für Gauthier Dance im Theaterhaus Stuttgart - der inzwischen geschasste Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts ist auch ansonsten mit zahlreichen Nennungen vertreten. „Dank der beredten Hände und Arme erweist sich sein Tanzidiom mehr denn je als eindringliches erzählerisches Mittel und schafft dabei Enormes, nämlich eine überraschende Verschmelzung mit dem damals revolutionären Stil Nijinskys als Tänzer und Choreograf, angereichert mit den Erkenntnissen von heute“, schreibt Eva-Elisabeth Fischer von der Süddeutschen Zeitung in ihrer Laudatio.

Interessanterweise wird Gauthier Dance inzwischen genauso oft erwähnt wie das Stuttgarter Ballett, im Gegensatz zum großen Bruder allerdings immer nur positiv. Die Kündigung Goeckes durch den designierten Intendanten Tamas Detrich wird mehrfach als „Ärgernis des Jahres“ genannt, genauso wie die Berufung von Sasha Waltz an die Spitze des Berliner Staatsballetts - in der Bundeshauptstadt allerdings regen sich auch Stimmen gegen „die Angst vor Veränderung“. Ein Extra-Lob aus Frankfurt, der Stadt ohne eigene Tanzkompanie, geht an die Sponsoren der großen Tanzfestivals wie etwa „Colours“ im Theaterhaus.

Gleich vier Mal ist das Stuttgarter Ballett bei der Umfrage nach dem Tänzer des Jahres vertreten, vor allem mit Adam Russell-Jones, der leider zum modernen Nederlands Dans Theater nach Amsterdam wechselt; er gefiel genau wie Agnes Su in Goeckes „Le Spectre de la Rose“, Pablo von Sternenfels punktete als Petruchio in Crankos „Zähmung“. Auch Rosario Guerra von Gauthier Dance wird in dieser Sparte gelobt, für seinen „bis ins Detail beherrschten Körper“ in „Nijinsky“.

Lesenswertes Jahrbuch

Russell-Jones und die Halbsolistin Jessica Fyfe („äußerst zart, mutig, klug“) vom Stuttgarter Ballett finden sich auch unter den 30 „Hoffnungsträgern“, die gesondert porträtiert werden. Tänzer des Jahres wurde der Virtuose Osiel Gouneo vom Bayerischen Staatsballett in der Titelrolle von „Spartacus“, kräftemäßig eine der schwersten Rollen überhaupt, die der aparte Kubaner mit grenzenloser Sprungkraft durchzog.

Das lesenswerte Jahrbuch lässt in einer Umfrage unter zahlreichen Choreografen zum Thema „Wie sieht der Tanz der Zukunft aus und wo findet er statt?“ tief blicken: John Neumeier etwa spricht ausschließlich von sich selbst, während Martin Schläpfer regelrecht zum Philosophen wird. Unter dem Titel „Mythische Orte“ porträtiert der Band legendäre Tanzzentren der Vergangenheit - das Monte Carlo der Ballets Russes, den Monte Verità als Wiege des Ausdruckstanzes, das Festspielhaus in Dresden-Hellerau und die New Yorker Judson Church, wo entscheidende Impulse für die Geschichte des modernen Tanzes entstanden.