Die Macht und die Freiheit: Stefan Margita Foto: Wolf Silveri - Wolf Silveri

Stephan Kimmig inszeniert die Kleist-Vertonung von 1960 als Freiheitsutopie: fragwürdig im großen Ganzen, vielschichtig in gelungenen Details. Herausragend ist Cornelius Meisters Interpretation von Henzes nicht unproblematischer Musik.

StuttgartEin Klang von kühler und neutraler Härte, diese reine Quint, in die sich dann eine kleine Sext spreizt: ein Pathosintervall aus dem Moll-Bereich, Spannung erzeugend, Emotion anmeldend. Für eherne Ordnung steht das eine, für wahre und verletzliche Empfindung der Gegenklang. Ein Konflikt also, ein steinalter zumal: Pflicht und Neigung, Verstand und Herz, System und Spontaneität, Anpassung und Widerstand, Realität und Traum – das zieht sich durch die Kultur- und Menschheits- und Individualgeschichte. Heinrich von Kleist hat in diese endlos verflochtenen Gegensätze seinen Prinzen von Homburg eingeschnürt, vordergründig betrachtet eine Übertragung des Geniekults auf ein militaristisches Regelsystem: Der Prinz, ein Träumer, folgt in der Schlacht seinem „Herzen“ und prescht drauflos – siegreich, aber befehlswidrig. Darauf steht der Tod.

Aufgelöst in holder Utopie

Hans Werner Henze schickt gleich zu Beginn seiner Vertonung dem ungehorsamen Genius der Militärstrategie jene Spannungsintervallik prophetisch voraus. Aufgelöst wird sie am Ende – zumindest in Stephan Kimmigs Neuinszenierung im Stuttgarter Opernhaus – in holder Utopie. „Zur Schlacht! Zum Sieg! In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“ lauten die letzten Worte in Kleists höchst subversiver Preußen-Apotheose. Ingeborg Bachmann, die für Henzes 1960 uraufgeführte Oper das Libretto nach Kleists Schauspiel schrieb, hat die martialische Schlussvolte nach langem Zögern, etlichen Diskussionen und einigem Herumprobieren stehen lassen. Bei Kimmig findet hier eine Demonstration des gesamten Ensembles statt, das mehrsprachig beschriftete Bänder – Mischungen aus Fan-Schals und Trauerbinden, schließlich sollte eigentlich kurz zuvor der Prinz hingerichtet werden – gen Publikum reckt. Worte wie „frei“, „Fraternité“, „Neugierde“, „Phantasie“ und „Diversity“ sind zu lesen. Womit die wahren „Feinde“, die „in Staub“ sollen, definiert sind: die Gegner der freien, offenen, gerechten Gesellschaft. Kurz gesagt: Nazis raus. „Brandenburg“ avanciert zum Idealstaat, zur Diversity-Republik einer Phantasie an der Macht. Zu plakativ schön, um wahr zu sein?

„Herr seiner selbst“

Ja – aber nicht nur. Kimmig greift hellsichtig auf das zurück, was Henze und Bachmann in der Nachkriegszeit an dem just von den Nazis missbrauchten Kleist-Stück interessierte: eben dessen subversive Seite. Der somnambule Prinz, der zwischen (Wunsch-)Traum und Realität nicht unterscheidet, ist ein Agent gegen die Macht; einer, der aus Träumen „große Klarheit und Helligkeit“ bezieht und dadurch „Herr seiner selbst“ wird, wie Bachmann schreibt. Eine Emanzipationsfigur, die den kriegerischen Wortlaut Lügen straft. Henzes Musik gewährt dem Prinzen denn auch die Freiheit der Kantilene und der freitonalen Emphase, während sich umgekehrt die strengen Techniken der Fuge, der Passacaglia, der Zwölftonreihen um den Systemzwang, die Macht, das Militärische festzurren. Und darin steckt – in polemischer Wendung – kein Traum, sondern ein Trauma: das des von der damaligen Avantgarde, namentlich Pierre Boulez, geschmähten und der Rückschrittlichkeit geziehenen Komponisten. Tatsächlich konterkariert Henzes Musik ihren utopischen Freiheitston, wenn sie den Systemzwang nur durch Rückgriffe auf ein älteres System (das der Tonalität) unterläuft. Die Anverwandlung Alban Berg’scher Klanglichkeit und Strawinsky’scher Vexierrhythmik zollt dann wiederum einer Modernität aus Pflichtbewusstsein Tribut – in bemerkenswertem Gegensatz zur pflichtvergessenen Prinzen-Rolle. Verbunden mit dem Dilemma der Literaturoper, dem kellnerhaften Servieren dramaturgisch passender Ton- und Tonsatzsymbolik zum vorgegebenen Text – schlägt Henzes meisterliche Beherrschung des Metiers bisweilen in Kunstgewerbe um.

Gerade die höchstgradig gespannte Interpretation des Stuttgarter Generalmusikdirektors Cornelius Meister treibt aus der Partitur den zentralen Widerspruch heraus: Sie ist, was sie erklärtermaßen nicht sein soll – Expressionismus. Den legt Meister mit dem exzellenten Staatsorchester bravourös frei: fulminant in der Dynamik, glühend und gleißend in den klingenden Nervenfasern, straff und transparent im feinen Liniengeflecht, prägnant in der Rhythmik, erregend in den Ekstasen des Leisen, magisch in den farbreichen Nuancen.

Das Kernproblem der Oper, die nur behauptete Freiheit, spiegelt sich in Kimmigs Regie. Die schwarze Seite, der unaufgelöste Zwiespalt von Kleists Vorlage wird ins Metaphorische verharmlost. Das Militärische, Inbegriff des tödlichen Systems, darf in prompter Vergegenwärtigung als Wirtschaftsunternehmen verstanden werden, wo man proper ins Geschäftsschlachtfeld zieht, sich dann freilich mit Blut beschmiert – hinten, in der Schlachthausnische des Bühnenbilds. Vorne indes sitzen die Kämpen eifernd am Tisch: Schlachtenbummler des Kapitalmarkts, als stierten sie auf Aktionskurse. Beim Angriff rotiert der Prinz auf der Tischplatte. Kein Wunder, dass ihm schwindlig wird. Ja, unterm Firmenfirmament hatte er traumwandelnd schon mal die (Karriere-)Leiter erklommen, die in mehrfacher Ausfertigung auch die Kollegen bei der Lagebesprechung erwartet, nur etliche Sprossen kürzer. Kleine oder große Traumtänzer sind sie hier alle, zuvorderst der Boss, also der Kurfürst, der seinen Musenfirmenhof in einen hermetischen Ballettsaal verwandelte, der etwas frische Tünche vertragen könnte. Katja Haß schuf das Bühnenbild von grandios beklemmendem Format. Und da dehnt er sich nun an der Stange, der Chefe, zeigt Posen und Figuren – ein Motivationsstratege, dessen Belegschaft ihre Körper nicht minder zum Slim-fit-Ideal zu ertüchtigen hat.

Träumer unter Träumern

Als Träumer unter Träumern ist der Prinz im Grunde genommen schon vor seinem Sündenfall rehabilitiert. Und das ist der Sündenfall der Inszenierung: Da ist nichts vom fiesen dialektischen Trick des Kurfürsten, der dem um sein Leben wimmernden Befehlsverweigerer Begnadigung verspricht, wenn dieser die Einsicht in die Notwendigkeit des Todesurteils verweigert. Tut er natürlich nicht, weil er erwartungsgemäß erkennt, dass er sich Freiheit durch die Unfreiheit der Gnade erkaufen würde. Bei Kimmig hingegen streift sich der Kurfürst ein „Freiheit“-Shirt über und – schwuppdiwupp – ist er der liebe Boss flacher Hierarchien, der eigentlich bloß kritisiert werden möchte. Zuguterletzt hat er – im wörtlichen wie übertragenen Sinn – so wenig die Hosen an wie der verurteilte Prinz. Nur als Lernerfahrung belässt er diesem seinen Todestrotz: Wer einmal den symbolischen Tod als äußerste Freiheit erfahren hat, kommt auch mit dem unsymbolischen Leben besser zurecht. Motivationsstrategie eben, therapeutisch untermischt. Und darauf den finalen Utopie-Tusch: Schön wär’s – aber ein unkleistisches Stück weit streift das an „Prinz von Humbug“.

Doch dem ging den ganzen Abend lang prächtiger Gesang voraus: Robin Adams gibt mit mächtigem, dabei unverbrülltem und zu Kantabilität fähigem Bariton dem Prinzen die Stimme – und eine markante, so gar nicht traumverlorene Gestalt, die bestens zum Gestus passt. Stefan Margita zeichnet mit schneidender Autorität und tenoralem Feinsinn einen trefflichen Ästheten-Kurfürst. Und Moritz Kallenberg als Graf Hohenzollern ist ein Prinzen-Kumpel mit wendigem Tenor in der Kehle und Luftikus-Hütchen auf dem Kopf.

Vera-Lotte Böcker singt des Prinzen geliebte Natalie mit leuchtendem, ekstatischem, superb geführtem Sopran. Schon wenn sie gleich zu Beginn das parlierende Ensemble mit ihrer zarten Kantilene umhüllt, steht der Traumhimmel offen. Helene Schneiderman gibt die Kurfürstin mit schönem, klarem Mezzo. Inszeniert ist sie als adrett-mausgraue Chefsekretärin, die sich mehr ums Eincremen ihrer Beine kümmert als um die Todesangst, die ihr der Prinz in die Gehörgänge stöhnt.

In Details wie diesem, unterhalb der großen Klammer, zeigt sich die Stärke von Kimmigs Regie: präzise Botschaften von der Kehrseite der Figuren, die eben nicht nur auf Utopie-Linie sind, sondern in einsamer Kleinlichkeit zerbröseln oder gar gespalten sind. Natalie wird von einem eifersüchtigen Alter Ego (Stine Marie Fischer) angezickt, der Prinz wird in seiner Monomanie entlarvt, wenn er hochmütig sein vermeintliches Glück preist – und hinter dem transparenten Vorhang ein Double in minimal, aber signifikant abweichender Gestik mit dem Unglück hadert. Ein weiterer Transparenzeffekt: Zu einem Orchesterzwischenspiel nach der Unterzeichnung des Todesurteils hebt sich auf der quasi mitspielenden Bühne mehrfach die Rückwand zur Schlachthausnische und fällt wie das Beil des Henkers. Dasselbe wiederholt sich vor dem Gnadenerlass des Kurfürsten, nur auf dem Kopf stehend: ein Zeichen der Verkehrung der brutalen Wirklichkeit in den erlösenden Traum. In solcher Feinjustierung, in solch subtiler Bildlichkeit ist Kimmigs Inszenierung sehens- und bedenkenswert.

Die nächsten Vorstellungen: 20., 22. und 29. März, 6. April, 4. Mai.