Rückfall in die Diktatur: Elsa (Simone Schneider, links) wird am Ende wieder zum Opfer des manipulierten Volks. Foto: Matthias Baus - Matthias Baus

Árpád Schillings inszeniert Wagners „Lohengrin“ als Eröffnungspremiere der Intendanz Viktor Schoners an der Stuttgarter Oper.

StuttgartMit dem heiligen Gral hat’s der Regisseur Árpád Schilling nicht so. Der Dirigent Cornelius Meister offenbar auch nicht. Gleich im ersten A-Dur-Klang des „Lohengrin“-Vorspiels wackeln die Akkordbauklötzchen. Dann: schepse Flageoletts der vier Solo-Violinen. Das ätherische Himmelblau dieser Gralsmusik, die Sphären der Transzendenz wollen sich partout nicht einstellen. Richard Wagner öffnet der Musik eine Dimension der Raum- und Zeitlosigkeit, entgrenzt zur Anderwelt seines Grals- und Schwanenritters, der in den Grenzen einer zerrütteten Gesellschaft scheitern wird. Aber die Hoffnung, die das Drama dementiert, hält das Vorspiel als utopisch einzulösendes Versprechen fest. Cornelius Meister aber, der neue Generalmusikdirektor der Stuttgarter Opern, will es möglichst schnell hinter sich haben. Also pinselt er brav und beschleunigt die Melodielinien – und dirigiert an der Klangfarbenkomposition, den wechselnden Transparenzeffekten der wie Gaze-Schleier geschichteten Tonkomplexe komplett vorbei. Zukunftsmusik wird auf biedere Romantik zurückgepolt.

Den musikalischen Flachpass (später klingen ganz andere Qualitäten aus dem Graben) verwandelt Regisseur Schilling im Stuttgarter Opernhaus bei der Eröffnungspremiere der Intendanz Viktor Schoners ins Unterirdische. In einem finsteren, nach hinten abfallenden Einheitssouterrain für alle drei Akte (Bühne: Raimund Orfeo Voigt) – assoziationsoffen von Platos Höhle der Unterbelichteten bis zur unterirdischen Arbeiterstadt in Fritz Langs „Metropolis“ – wird in überwiegendem Standtheater eine Behauptung exekutiert: Den Gral, sagt Schilling, gibt es nicht. Also keine Gegenwelt, die charismatische Reform-Messiasse à la Lohengrin in politische Realmiseren absondert. Nur radikale Immanenz. Als These betrachtet gar nicht schlecht. Schließlich ist Wagners Anverwandlung der Gralslegende tatsächlich ein Platzhalter: kunstreligiös aufgeladenes Erlösungssymbol, zugleich fragwürdig bis zum Betrugsverdacht, den Lohengrins Frageverbot erst recht weckt. Dass er die arme Elsa rettet aus dem kruden Schauprozess wegen angeblichen Mordes an ihrem Bruder Gottfried, dem legitimen Machterben, dass er sie liebt und heiratet und trotzdem auf seiner Nicht-Identifizierbarkeit besteht, bleibt – gelinde gesagt – vieldeutig im dahintersteckenden Motiv. Will Lohengrin selbst gemeint und geminnt sein, nicht seine hohe Herkunft? Ist er ein Zölibatsflüchtling aus der männerbündlerischen Gralsheiligkeit? Oder dient das ganze Brimborium zur Ausrede? Quatscht der Kerl vom Gral und trieb in Wahrheit weiß der Teufel was? Verordnet der Männe deshalb dräuenden Tons der düpierten Gattin: „Nie sollst du mich befragen“? Wagners Oper mit ihrer unheiligen Dreifaltigkeit von Tabu, Trauma und Tragödie wäre denn eine pathetisch verkappte Boulevardklamotte.

So weit geht Schilling leider nicht. Immerhin, eine Pointe hat bei ihm das Frageverbot nach der Identität: Lohengrin hat kein. Zumindest keine befragenswerte. Er ist kein schwanengezogener Ritter, sondern irgendein Malocher, widerstrebend herausgedrängt aus der grauen Volksmasse und in die Reformerrolle gezwängt. Einer muss es ja machen, denn dieses Volk von Brabant lebt in einem gescheiterten Staat, wo die Machtfrage ungeklärt und die Rivalität widerstreitender Kräfte lähmend ist. Man sehnt sich nach Führung und Veränderung. Damit ist zugleich die auffällige psychologische Trottelhaftigkeit geklärt, mit der Lohengrin seine Regimegegner auf den Weg zum Tabubruch stupst: Er provoziert die vermaledeite Frage, um aus der Nummer rauszukommen.

Das ist klug gedacht – und schlecht inszeniert. Denn unterhalb der steilen Thesenbehauptung herrscht sterile Ideen- und Gedankenarmut. Chor- und Personenführung: bleibt den Sängerdarstellern überlassen. Die machen’s achtbar, Simone Schneider als Elsa sogar überragend. Klar, es gibt die Sache mit dem Schwan, den es nur als unheilssymbolischen, fürs bedrohlich Rätselhafte stehendes Plüsch-Maskottchen gibt. Die böse Ortrud, zusammen mit ihrem Gespons Telramund Vertreterin der abgesägten alten Mächte, hat das eingefädelt. Als sie auf ihrem fürs Exil gepackten Koffer hockt, plumpst gar ein großer Textilschwan aus dem Gepäck, später vermehrt zur putzigen Hochzeitsdekoration und zum Menetekel unterm Brautbett: alles zum Zweck gezielten Trauma-Triggerns. Mit dem gewünschten Erfolg in der ausnahmsweise präziser inszenierten Hochzeitsnacht: Lohengrin will zur Sache, Elsa nervt mit bohrenden Fragen, er zieht sich wieder an, sie bricht das Fragetabu. Ende der Beziehung.

Seine Skepsis gegenüber politischem Messianismus notiert der ungarische Regisseur, auch unter dem Eindruck des Orbánismus in seinem Heimatland, im Bild des untergehenden Ostblock und der Folgen bis heute. Aber auch das wird nicht inszeniert, nur eingekleidet in den Kostümen Tina Kloempkes. Zu Beginn: Kollektive in DDR-Grau, Anzugträger beim Zoff im Politbüro. Tauwetter und Wende unter Lohengrin lassen die Volksmassen bunter werden bis zur konsumfreudigen Freizeitkluft. Aber das Ende vom demokratischen Befreiungslied: der Rückfall. Lohengrin weg, anders als bei Wagner erscheint kein Gottfried den suchend gen Himmel starrenden Scharen als neuer Heilsbringer. Ortrud triumphiert, zerrt den x-beliebigen nächsten Niemand aus der Masse, als Strohmann für die Wiederkehr alter Diktaturverhältnisse. Und schon wendet sich das Volk gegen Elsa, die hilflos ein Messer zückt, gegen die Angreifer oder sich selbst. Ein pessimistisch starker Schluss, der aber dreieinhalb Stunden szenisches Desaster nicht rettet.

Während Cornelius Meister und das Staatsorchester ab dem zweiten Akt die Konturen schärften, das Klangbild lichteten. Nun wurde – freilich mit ein paar Patzern und Ungenauigkeiten – sehnig straff musiziert, das Forte athletisch gewuchtet, der tiefe Sinn feiner Motivverästelungen beleuchtet. Prächtig der frisch gekürte Opernchor des Jahres (einstudiert von Manuel Pujol), und zwar nicht nur in der vollen Dröhnung, sondern gerade auch in der Nuancierung des Ausdrucks, der Elastizität der Dynamik.

Solistisch überragend Okka von der Damerau als Ortrud: Mit unbändiger dramatischern Kraft, höhensicher und expressiv facettierend, sang sie das Porträt einer Überzeugungstäterin, dabei fähig, im Furor die Töne menschlicher Verletztheit schmerzlich leuchten zu lassen. Grandios auch der Telramund Martin Gantners mit eher hellem, bestens geführten Bariton und weitem Ausdrucksspektrum, markant durch tonliche Formung, nicht durch Gebell. Simone Schneiders Elsa trübte der kehlige, verschattete, nicht immer intonationsgenaue Einstieg. Ihr Ton sitzt nicht vorn, doch wuchs ihr Timbre mit der Rolle zu nobler Emphase, zu Seele und Charakter. Dagegen fiel Michael König als Lohengrin mit etwas engem, unfreiem Tenor ab – bis hin zu hörbarer Überforderung gegen Ende der Langstreckenpartie. In der Gralserzählung musste er den Spitzenton von unten anschleifen, später drohte ihm gar die Stimme zu versagen. Zuverlässig und mit schön sonorem Bass Goran Juri´ als König Heinrich, mächtig in runder Fülle Shigeo Ishino als moderatorenhaft ironisierter Heerrufer. So gab’s zum Neustart an der Oper Jubel für die musikalisch Beteiligten, verdiente Buhs für den Regisseur.

Die nächsten Vorstellungen: 3., 14., 20. und 27. Oktober, 3. und 5. November.