Musik hat brisant zu sein für Thomas Zehetmair - als Weltklasse-Geiger wie als Meister des Taktstocks. Foto: Pablo Faccinetto Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Ein Coup? Zumindest ein interessantes Engagement, das dem Stuttgarter Kammerorchester (SKO) und seinem neuen Intendanten Markus Korselt geglückt ist: Thomas Zehetmair, Weltklasse-Geiger und seit über 20 Jahren auch renommierter Meister des Taktstocks, wird im Herbst 2019 Chefdirigent des Orchesters und damit Nachfolger Matthias Foremnys, den es zur Oper und zum groß besetzten symphonischen Repertoire zieht. Seinen Stuttgarter Vertrag wird er nicht verlängern, die Trennung nach dann sechs Jahren erfolge in aller Freundschaft, betont Korselt. Dass Foremny auch nach seinem Abschied beim SKO gastieren wird, mag die Worte beglaubigen.

„Einstimmig in zwei Sekunden“

Debatten über die diversen Nachfolgekandidaten gab es laut Korselt nicht: Orchester und Vorstand „haben sich in zwei Sekunden einstimmig entschieden“. Und das mit nachvollziehbaren Gründen: Der 1961 in Salzburg geborene Zehetmair ist einer der seriösesten Musiker der Gegenwart, einer, der akribisch am individuellen Klang und am Ausdruck feilt, der Partituren minuziös durchleuchtet. Mit Pedanterie hat das nicht das Geringste zu tun, wohl aber mit jener Genauigkeit, welche den Glutkern der notierten Musik entfacht. Und Musik hat brisant zu sein für den Interpreten Zehetmair - als Dirigent etwa des Kammerorchesters Paris oder des Musikkollegiums Winterthur, als Kammermusiker mit eigenem Quartett, als virtuoser Geiger, der auch aus Paganinis (bogen-)haarsträubend schweren Capricen die teufelsgeigerische Verwegenheit und nicht nur die akrobatische Hochleistungsgymnastik herauszustreichen weiß. Tralala und Crossover mögen andere machen. Zehetmair zitiert lieber seinen Lehrer und späteren Musizierpartner Nikolaus Harnoncourt mit der steilen und doch wahrhaftigen These, eine geglückte Interpretation bewege sich stets am Rande des Abgrunds.

Die Prägung durch den großen Originalklang-Pionier weist zudem auf eine weitere Eigenschaft des künftigen SKO-Chefs: Er ist geeicht auf die klangrhetorischen Finessen der historischen Aufführungspraxis, auch wenn er sie überwiegend mit modernem Gerät praktiziert. Nicht das Instrumentarium entscheidet eben über Authentizität, sondern das interpretierende Bewusstsein. Und dieses ist im Fall Zehetmairs gerade nicht das eines Nischenstreichers, sondern eines Allrounders, der die gesamte Geschichte und Gegenwart der Musik in Hirn und Gehörgang speichert. Nahezu alle großen Violinkonzerte bis hin zu Berg und Bartók hat er drauf, dazu viel Neues und Neuestes gespielt.

Identität und Krise

Solche Breite des Repertoires passt ideal zu einem Traditionsklangkörper wie dem SKO, der seine Identität nur in Abgrenzung vom Epochenspezialistentum finden kann. Wenn freilich von Identität die Rede ist, liegt auch die Krise nahe. Dem SKO - 1945 von Karl Münchinger gegründet und alsbald Leuchtturm einer damals neuen Sicht auf die Werke des Barock und der Klassik - ist sie nicht fremd. Der Siegeszug der Originaltruppen trübte das barocke und klassische Licht, umgekehrt kann und will das SKO auch kein zweites Ensemble modern sein. Das wechselnde Chefdirigenten-Profil spiegelt bis zuletzt das Dilemma: Mit Michael Hofstetter holte man sich 2006 einen Experten der historischen Aufführungspraxis, Foremny legte ab 2013 den Schalter um auf ein eher spätromantisches Klangideal - interpretatorisch durchaus mit Format. Mit Zehetmair besteht nun die Chance einer Neujustierung des Alleinstellungsmerkmals gegenüber den Spezialisten-Cracks: epochenübergreifende Programme, die interpretatorisch allen stilistischen Sätteln gerecht werden.

Zunächst drei Jahre währt Zehetmairs Vertrag, vereinbart ist ein Minimum von jährlich sieben Wochen Präsenz - ähnlich wie bei Foremny. Große Töne über seine künftige Arbeit spuckt der Neue indes nicht, ihm geht es um „Differenziertheit der Einzelstimmen“, „vielschichtigen Klang“, kammermusikalische Interaktion im kleinen Orchester. Anders gesagt: Die Musik hat das Wort. Man wird hören.

Am 21. März 2018, 20 Uhr, interpretiert Thomas Zehetmair als Solist und Dirigent mit dem Stuttgarter Kammerorchester im Theaterhaus Musik von Schubert, Mozart und Beethoven.