Keiner versteht sie: Kristin Göpfert (vorne) als Hedda Gabler mit Martin Theuer als Heddas Gatte Tesman und der Cellistin Céline Papion, die der Sprachlosigkeit einen Soundtrack unterlegt. Foto: Patrick Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen - Zwei Tote - und nun kann das Leben, wenn es denn eines ist, weitergehen. Die Störfaktoren sind entsorgt: per Schuss in den Unterleib der eine - provozierter Mord oder Selbstmord, so genau weiß man’s nicht; per Suizidschuss in die Schläfe die andere, schlimmere. Das Ende von Ibsens „Hedda Gabler“ wäre ein Triumph der gesellschaftlichen Ordnung, wenn die Gesellschaft in Ordnung wäre. Der norwegische Dramatiker diagnostizierte anno 1890 freilich einen Gesellschaftszustand jenseits von Gut und Böse, Ordnung und Unordnung, Rechthaben und Unrechttun. Diese Gesellschaft ist vor allem eines: ein enger, geschlossener Raum. Und die Stützen dieser Gesellschaft reden viel, kommunizieren kaum, verstehen nichts. Ein Zustand des kollektiven Autismus. Deshalb hat der Regisseur Alexander Müller-Elmau als sein eigener Bühnenbildner das Stück, das nur in geschlossenen Räumen spielt, vollends in einen Rohbau-Bunker verbannt. Hedda Gabler, in der beeindruckend bedrückenden Esslinger Landesbühneninszenierung mit Kristin Göpfert ideal besetzt, steckt gleich zu Beginn Postkarten und Päckchen in die Ritzen, als sollten die papiernen Botschaften von außen die massiven Wände des unentrinnbar Inneren sprengen. Eine Symbolhandlung, genauso wie jene Bleistift-Borderlines, die Hedda am Beton entlang zieht, als suche sie eine Lücke.

Der Tod ist kein Symbol

Am Ende gibt sie sich unsymbolisch die Kugel. „So etwas tut man doch nicht“, sagt Richter Brack, der sie soeben sexuell zu erpressen versuchte. Bei Antonio Lallo, der den jovial-verkommenen Zyniker spielt, klingt das verständnislos, geradezu naiv: wie ein Kind, dem man die Puppe wegnimmt, die es ein bisschen quälen wollte. Infantiler Rückfall und Wortlosigkeit - mehr fällt den Herren nicht ein. Brack und Tesman, Heddas frisch angetrauter Gatte, gehen dorthin, wo Hedda nie hinkam, erst recht nicht auf ihrer Monate langen Hochzeitsreise durch Europa: nach draußen, ins Freie.

Müller-Elmau zeigt mit diesem Finale - wie mit seiner ganzen hoch verdichteten Inszenierung - äußerst präzise den zwanghaften Ausgrenzungsmechanismus einer Gesellschaft, die in völliger menschlicher Entfremdung ihre Stabilität findet. Denn befreit sind die Unfreien nur von einer Frau, die ganz anderes meinte und wollte: eine Freiheit, die sie selbst nicht kennt und deshalb ausschließlich in der Zerstörung findet. Das ist die innere Tragik Heddas, der Unerträglichen, der tödlichen Vernichterin. Nach ihrem Verschwinden wird Brack wieder auf die Pirsch gehen nach gefügigeren Opfern, und Tesman, der pusselige, geistig unselbständige Kulturwissenschaftler mit Professurambition, darf ungestört seine Arbeitsbeziehung mit Thea Elvsted aufnehmen, seiner Verflossenen, die ihn als Frau so wenig interessiert wie Hedda. Seine einzige Leidenschaft ist eine parasitär-pedantische Lustverkrümmung: „Ordnung bringen in anderer Leute Papiere - das liegt mir.“ Zweisam einsam sortiert man Notizen zum Opus magnum Ejlert Løvborgs, wissenschaftlich ein genialer Konkurrent Tesmans, erotisch ein Rivale, der einst bei Hedda Emotionsräume öffnete, die Tesman ohnehin verschlossen blieben.

Hedda hat das in Ko-Autorschaft mit Thea Elvsted bereits fertiggestellte Manuskript Løvborgs verbrannt, ihn selbst zurückgetrieben in den Alkoholismus - den Verzweiflungszustand nach der an ihrer Unnahbarkeit zerschellten Liebe - und schließlich in den Tod geschickt. Er möge es „in Schönheit“ tun, gibt sie ihm mit auf den letzten Weg - zusammen mit der Pistole, mit der sie einst sein Begehren abgewehrt hatte. Dass es anders kommen wird, lässt Ralph Hönicke als seelennarbiger und absturzgefährdeter Intellektueller ahnen: kein edler Freitod, sondern eine ekle Vollstreckung im Bordell. Kollateralbonus für die gesellschaftliche Ordnung: ein Außenseiter, ein potenzieller (Karriere-)Gefährder - beseitigt.

Das große Unbehagen

Was treibt Hedda zu ihrem Destruktionswerk? Das Unbehagen - in der Kultur, in der Gesellschaft, im eigenen Körper, im eigenen Geschlecht. Aber sie strebt nicht - wie Ibsens Nora - nach Emanzipation. Sie rebelliert auch nicht gegen eine sterile und egomanische Sozietät, die ein geistiges Erzeugnis - Løvborgs und Elvsteds Manuskript - zum „gemeinsamen Kind“ und seinen Verlust zum „Kindsmord“ erklärt, sondern ist ein Teil von ihr. Die Vorstellung einer Schwangerschaft, die der Jungverheirateten bauchtatschend angehängt wird, ist ihr zuwider. Hedda sucht weder eine Rolle noch eine Identität. Sie implodiert. Ihre Freiheit ist das Nichts, als Verkörperung innerer Leere gehört sie nicht mehr dem Zeitalter von Femme fatale und Ästhetizismus an, sondern ist eine Grenzgängerin in die Zukunft der Vergangenheit Ibsens: in unsere Gegenwart.

Müller-Elmau hat deshalb das Gespensterraunen der Sprechakte, deren Sprecher über andere nicht immer die Wahrheit sagen und sich selbst nicht immer kennen, auf aktuellen Stand gebracht: ganz ohne die Gleitmittel modischen Soap-Jargons, erfreulich eng am originalen Wortlaut. Und Kristin Göpfert zeigt solche Vergegenwärtigung in aller Klarheit: Wenn ihre Hedda, die eigentlich Frigide, die Femme fatale macht, mit stechendem Raubtierblick und vorgebeugtem Oberkörper die (Männer-)Beute avisiert, ist es erkennbar ebenso ein Rollenzitat wie das dröhnende Pathos von der „Schönheit“ des Tods, von Mut und heroischer Vernichtungstat - militärische Ideale, geborgte Sprache der Generalstochter, die damit umreißt, was sie ganz anderes sagen möchte und was nicht gesagt werden kann. Sie flattert als zarte Madame Butterfly im Kimono-Morgenrock (Kostüme: Katrin Busching) durch die Nachtfalterzonen der eigenen Existenz, und sie lockt doch als verhängnisvoll schönes Biest die anderen in die Flamme ihrer Vernichtungsglut. Göpfert spielt überragend genau, wie Hedda all diese überkommenen Rollenklischees nur bemüht und sich doch selbst ein Rätsel bleibt in ihrem abgründigen Narzissmus, der beim freien Fall ins Leere keine Freiheit, kein Ich und keine Identität findet. Auch keine sexuelle: Hedda, die Männerkörper abstoßen und Männermartialisches anzieht, knutscht bei Müller-Elmau zwar mal Frau Elvsted. Aber es bleibt ein Moment, irgendwo zwischen gesuchter Nähe und versuchter Demütigung. Hedda gehört sexuell weder zu Homo noch Hetero, allenfalls zu unserer Transgender-Gegenwart.

Gegen all das hat Tesman keine Chance, obwohl ihn Martin Theuer gerade nicht als die akademische Zitatenjäger- und Stammler-Karikatur des Originals spielt. Er ist nachdenklich, zur Empathie durchaus fähig - und letztlich doch ratlos. Während Katja Uffelmann als Thea Elvsted hinter innerer Anspannung, Klammergriff um die Handtasche und dem Äußeren einer Chefbuchhalterin die Frau der Tat spüren lässt: Sie weiß, was sie will, nämlich auf keinen Fall zurück in ihr Eheelend, dafür Løvborg. Und der ist weniger Objekt, als Instrument einer Begierde eigener Art, einer ko-kreativen Selbstverwirklichung. Nach seinem Tod zählt für sie nichts als die Rekonstruktion des Manuskripts aus jenen Notizen, die sie aus Enttäuschung selbst schon zerknüllt hatte.

Tragödie der Sprachlosigkeit

Für Hedda gibt es unter all diesen Ego-Zwängen keinen Sprachraum. Deshalb inszeniert Müller-Elmau auch die Geburt der Musik aus dem Geist dieser Tragödie der Sprachlosigkeit. Die Cellistin Céline Papion streicht flirrende Flageoletts, kratzige Tonränder und Markiges aus Bachs Solosuiten: atmosphärisch stimmig - und doch nur ein Regiekopf-geborener, verzichtbarer Soundtrack. Was der einzige Einwand wäre gegen eine Inszenierung, die in modellhafter Schärfe einen gegenwärtigen Gesellschaftszustand aus einem alten, aber nicht veralteten Stück heraus entwickelt.

Die nächsten Vorstellungen: morgen sowie 7., 14. und 19. Oktober, 8. und 17. November.