Luthers Thesenanschlag an der Schloßkirche zu Wittenberg am 31. Oktober 1517: Ausschnitt eines Gemäldes von Ferdinand Pauwels von 1872. Foto: AKG Quelle: Unbekannt

Der Erfolg der Reformation verdankt sich wesentlich auch einer beispiellosen Medienoffensive. Mit seinem Freiheitsverständnis wurde Luther zu einem wichtigen Wegbereiter des freien Individuums.

Von Thomas Krazeisen

An Martin Luther kommt man in diesem Jahr nicht vorbei. Die Gedenkkarawane ist mit ihren Ausstellungen, Buchneuerscheinungen, Theaterstücken, Musicals, Oratorien und nicht zuletzt Hör- sowie TV-Dokumentationen fast schon durch, da bekommen wir, sozusagen sola gratia, am Ende dieses Monats vom Staat einen zusätzlichen freien Tag. Der Reformationstag ist dieses Jahr ausnahmsweise ein gesetzlicher Feiertag in ganz Deutschland.

Für die Tourismusbranche und Ausstellungsmacher ist der Reformator noch immer ein Zugpferd. Kaum eine Schau, die nicht einen Shop mit allerlei Luther-Devotionalien anbietet: „Süßes oder Saures?“ - was für eine Frage! Natürlich gibt es vorneweg profane Luther-Bonbons unterschiedlicher Geschmacksrichtungen für den hochheiligen Halloween-Feiertag. Außerdem Luther-Schlüsselanhänger mit Einkaufswagen-Chip oder ein garantiert nebenwirkungsfreies Breitband-Theologicum („Lutherol“) mit erbaulichen Luther-Sprüche für alle Lebens- und Gemütslagen in Arzneimittelaufmachung. Und nicht zuletzt gibt es für die spielerische Annäherung an die Reformation die Playmobil-Sonderkollektion „Martin Luther“.

So viel Merchandising - auch online - mit der Marke Luther war nie, hat man den Eindruck. Und doch: Auch die Publikationsflut, die in diesem Reformationsgedenkjahr den Lesemarkt geschwemmt hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schar derer, die durch eigene Lektüre ein persönliches Verhältnis zum Reformator zu gewinnen suchen, eher kleiner wird als wächst. Das liegt vor allem auch daran, dass Luthers Welt nicht mehr die unsere ist, auch wenn Parallelen nicht zu übersehen sind. Martin Luther (1483-1546) lebte in einer religiös aufgeladenen Zeit, einer globalen Epoche des ökonomischen Auf- und sozialen Umbruchs, der Neuvermessung des politischen Koordinatensystems zwischen Kaiser, Papst und Fürsten. Die Kehrseite dieser enormen Dynamisierung von Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft war eine große Verunsicherung. Der niederländische Maler Hieronymus Bosch hat in seinem fantastischen Kino der Angst mit seinen surrealen Himmel-und-Hölle-Visionen diesen Kosmos der Schrecken, Schmerzen und Lüste virtuos ins Bild gesetzt: apokalyptische Virtual Reality in einer Gesellschaft, für die Engel, Dämonen und Luzifer ebenso reale Akteure im Endspiel einer aus den Fugen geratenen Welt waren wie Kaiser und Papst.

Die permanente Furcht vor dem jüngsten Gericht, die gefühlte Nähe des Weltendes, eine existenzielle Angst vor den Folgen des eigenen Tuns - Sündenstrafen, Fegefeuer und ewige Verdammnis - bildeten den mentalen Hintergrund, vor dem aus einem eher unbedeutenden Ereignis in der sächsischen Provinz überhaupt erst ein Drama von weltgeschichtlicher Bedeutung werden konnte. Ob Martin Luther tatsächlich am Vorabend von Allerheiligen anno 1517, der als Beginn der Reformation gilt, seine 95 Thesen gegen den Ablass persönlich ans Eingangsportal der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen hat, wie es auch von seinem Mitstreiter Philipp Melanchthon später berichtet wird, darüber streiten sich noch immer die Gelehrten.

Ob historisches Datum oder Gründungsmythos: Die Thesen des 31. Oktober 1517 wurden zu Sargnägeln eines morsch gewordenen päpstlichen Machtgebäudes. Entscheidend für den Erfolg der Reformation waren zweifellos die neuen Möglichkeiten bei der Verbreitung von Luthers Kirchenkritik durch die Erfindung des Buchdrucks einige Jahrzehnte zuvor durch Johannes Gutenberg. Das neue Druckverfahren mit beweglichen Lettern bedeutete eine Revolutionierung der Kommunikation. Nur so konnte ein zunächst für den akademischen Diskurs bestimmtes Diskussionspapier, abgefasst in der Gelehrtensprache Latein, zu einem echten „Medienevent“ werden, das über die üblichen akademischen Zirkel hinaus auch die kleinen Leute auf den Straßen und Marktplätzen erreichte. Das war ebenso revolutionär wie die virtuosen Selbstinszenierungen Luthers mithilfe der Cranach‘schen Medienwerkstatt.

Luther zu unterstellen, er habe gewissermaßen schon als Wittenberger Theologieprofessor eine Art Masterplan zur Schleifung des päpstlichen Macht- und Heilsapparats in der Tasche gehabt, hieße Ursache und Wirkung zu verwechseln. Dass er mit seinen Thesen die geistliche, aber auch die politische Welt, wie sie bis dahin Bestand hatte, aus den Angeln heben würde mit konfessionellen Spaltungen und einem blutigen Religionskrieg in Europa als Folgen, war vom jungen Mönch aus der sächsischen Provinz weder beabsichtigt noch für ihn auch nur ansatzweise absehbar. Wittenberg war damals noch nicht, wie ein knappes Jahrhundert später für Shakespeares Hamlet, Sitz des Weltgeistes. Luther lehrte, wie er selbst einmal sagte, „am Rande der Zivilisation“.

Mit Stumpf und Stiel die Strukturen der Papstkirche auszureißen, lag dem Bibelprofessor, der bis 1524, also noch eine ganze Zeit nach dem entscheidenden Wormser Reichstag von 1521, Mönch geblieben ist, wohl auch deshalb fern, weil dieser selbst die kirchlichen Heilsrituale, also Fasten, Wallfahrten, Lesungen von Messen und Heiligenfürbitten, eifrig nutzte. Das kirchliche Bußangebot sah die Möglichkeit vor, durch fromme Bußtaten zu Lebzeiten nicht nur für sich selbst, sondern auch für bereits verstorbene Angehörige eine Art Rabatt auf die nach dem Tod zu erwartenden zeitlichen Sündenstrafen zu erlangen. In Rom wallfahrtete der Pilger Luther durch sämtliche sieben Pilgerkirchen und kroch auf Knien die Heilige Treppe am Lateranpalast hinauf, wobei er auf jeder Stufe wie gefordert ein Vaterunser für seinen Großvater Heinrich betete.

Luther, der „Rebell in einer Zeit des Umbruchs“ (C.H. Beck Verlag), darauf hat Autor Heinz Schilling, einer der besten Reformationskenner und -Erzähler hingewiesen, profitierte von der Dynamik jenes tiefgreifenden Transformationsprozess, der Kirche und Staat, Bildung und Wirtschaft gleichermaßen erfasst hatte. Seine Ideen waren zugleich anschlussfähig an eine seit langem aufgestaute Kirchenverdrossenheit. Die Reformation - und die durch sie ausgelöste katholische Erneuerungsbewegung - stellen sich aus dieser Perspektive als Kulminationspunkte eines längeren Reformprozesses in den abendländischen Gesellschaften des späten Mittelalters dar.

Diese Erneuerungsbestrebungen lassen sich auf politischer Ebene am Großprojekt der sogenannten Reichsreform beobachten, bei der auf Verfassungsebene die Spielräume zwischen Kaiser und Reichsständen neu vermessen wurden. Im 15. Jahrhundert war der Begriff Reform aber vor allem auch in religiöser Hinsicht eines der am häufigsten bemühten Schlagworte. Eine gründliche Reform „an Haupt und Gliedern“, wie es damals hieß, hatten sich schon die beiden großen spätmittelalterlichen Konzilien in Basel und Konstanz auf die Fahnen geschrieben. Eingelöst werden sollte sie erst mit der Reformation, doch in der Person des Prager Kirchenrebellen Jan Hus war bereits 100 Jahre zuvor mit der Forderung nach Aufhebung der Trennung von Laien und Priestern ein zentrales Thema der Lutherzeit angeklungen. Neben den im Hochmittelalter im städtischen Milieu entstandenen Bettelorden, zu denen neben den Franziskanern, Dominikanern und Karmeliten auch Luthers Augustinerorden zählte, gehörte auch die in den Niederlanden entstandene Devotio moderna zu jenen kirchlichen Bewegungen, die den Boden für die Reformation bereiteten. Luthers Kontrahent, der Humanist Erasmus von Rotterdam, wurde durch diese Frömmigkeitsrichtung geprägt, die sich vor allem auch aus der Spiritualität der christlichen Mystik speiste und den persönlichen Christusbezug ins Zentrum rückte. Auch in Württemberg gewann die Devotio moderna einen gewissen Einfluss, nämlich in Gestalt der aus ihr hervorgegangenen Brüder vom gemeinsamen Leben, die Graf Eberhard im Bart ins Land holte. Das erste dieser Fraterhäuser, in denen Kleriker und Laien zusammenlebten, wurde 1477, also im Jahr der Tübinger Universitätsgründung, in Urach eingerichtet. Nicht nur wegen der Verbindung von praktischer Frömmigkeit und Wissenschaft - Gabriel Biel, der erste Propst des Uracher Brüderhauses, war auch ein bedeutender Theologieprofessor in Tübingen - ist dieses Beispiel aufschlussreich, denn Graf Eberhard im Bart hatte bereits im 15. Jahrhundert als frommer Landesherr die Reform der Klöster selbst in die Hand genommen - mit päpstlicher Erlaubnis und unter Umgehung der für Württemberg zuständigen Bistümer.

Hier deutet sich bereits jenes Modell des landesherrlichen Kirchenregiments an, das dann im 16. Jahrhundert bei der territorialpolitischen Implementierung der Reformation eine wesentliche Rolle spielen sollte. Dass Luther trotz Acht und Bann gegen den päpstlichen Machtapparat wie gegen die höchste politische Autorität im Heiligen Römischen Reich bestehen konnte und nicht wie Hus als Ketzer auf dem Scheiterhaufen landete, lag zu einem nicht unwesentlichen Teil auch an den veränderten machtpolitischen Rahmenbedingungen. Von ihnen profitierte auch Luthers Schutz- und Landesherr, der altgläubige Friedrich der Weise, der insbesondere durch sprudelnde Einnahmen aus Montangewerbe und Bergbau einen hocheffizienten frühmodernen Staat aufgebaut hatte. Die Causa Lutheri bot den Fürsten die Möglichkeit, sich als Territorialherren gegen den Kaiser zu profilieren und ihre landesherrliche Macht nach innen zu intensivieren. Als oberste Kirchenherren konnten sie sich dabei auf Luthers Grundsatz vom Priestertum aller Getauften berufen. So eröffnete die Bildung eigenständiger Kirchen den Fürsten im Antagonismus zur kaiserlichen Zentralgewalt neue Optionen bei der Verdichtung ihrer landesherrlichen Gewalt.

Obwohl kirchliche und bürgerliche Gemeinde weiterhin praktisch deckungsgleich waren, gab es eine grundsätzliche Trennline. Diese prinzipielle Trennung von weltlicher und geistlicher Sphäre, wie sie auch in Luthers sogenannter Zwei-Reiche-Lehre formuliert ist, war perspektivisch bedeutsam für die Entwicklung der modernen, religionsneutralen Zivilgesellschaft. Diese musste freilich erst gleichsam durchs Fegefeuer einer über viele Jahrzehnte währenden konfessionellen Erbfeindschaft gehen. Die Anfänge der modernen Identitätsfindung Europas sind mit blutroter Tinte geschriebene Kapitel einer fundamentalistischen Konfliktgeschichte. Doch der Epoche der Politisierung des Glaubens und kompromisslosen Konfessionalisierung folgte eine verstärkte Hinwendung zur Herzensfrömmigkeit, neben der lutherischen Orthodoxie erwuchs mit der pietistischen Innerlichkeitskultur eine neuen Reformkraft innerhalb des europäischen Protestantismus. So trugen am Ende - vielleicht ein Fingerzeig für die ungelösten Religionskonflikte unserer Tage - neben den weltlichen Instrumenten des Römischen Rechts und der Europäisierung der deutschen Reichsverfassung auf dem Westfälischen Friedenskongress von 1648 auch die sich zuvor erbittert bekämpfenden Konfessionen selbst zu jenem religiös-kulturellen „Differenzierungsschub“ (Schilling) bei, der die moderne multikonfessionell-pluralistische Gesellschaft schließlich dahin brachte, auch konkurrierende religiöse Wahrheitsansprüche auszuhalten.

Mit seinem Freiheitsverständnis wurde Luther zu einem bedeutenden Wegbereiter des freien Individuums. Freie Meinungsäußerung, Gewissensfreiheit, Toleranz: All diese uns selbstverständlichen Errungenschaften sind mit dem Protestantismus verbunden. Doch Luther als unmittelbaren Vater unseres modernen Freiheitsbegriffs in Anspruch zu nehmen, käme einem Anachronismus gleich. Denn wenn Martin Luther von Freiheit sprach, dachte er nicht wie wir an Individualismus, Liberalismus und Toleranz - und erst recht nicht dachte er an politische Freiheit. Es ging ihm um die Frage, wie er „einen gnädigen Gott bekommen“ kann. Sein Freiheitsbegriff, wie er ihn vor allem in der zentralen Reformationsschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ 1520 entwickelt hat, ist also vor allem ein theologischer und bezieht sich auf den „inneren Menschen“. Wie es im Zweifel um die Freiheit des „äußeren Menschen“ bestellt sein durfte, zeigte sich schon wenige Jahre später im großen deutschen Bauernkrieg, als Luther wieder einmal den Teufel die Grundsuppe umrühren sah. „Schlaget, würget, stechet … heimlich oder öffentlich“, lautete der Freibrief des Theologen an die Fürsten, die sich bekanntlich nicht zweimal bitten ließen. Thomas Mann befand im amerikanischen Exil, Luther sei ein „Freiheitsheld“ gewesen - „aber in deutschem Stil“, denn er habe nichts von politischer Freiheit verstanden und jede Revolution verabscheut.

Von Martin Luther führt in der Tat keine direkte Brücke zu den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution oder gar ins 21. Jahrhundert, auch wenn die aktuelle Publikationsflut ihn für alle möglichen Gegenwartsphänomen und -projekte kritisch in Anspruch nimmt. Er ist Prototyp des deutschen Wutbürgers, Ahnherr des modernen Populisten, gar als medienaffiner „Twitterer“ seiner Zeit eine Art Trump Gottes, wahlweise auch ein Hassprediger. Alle Erklärungsversuche, Luther, den ganz Anderen, zum Unsrigen zu machen, ihm aktuelle Zeitgenossenschaft zu attestieren, laufen ebenso ins Leere wie all die Projektionen und Zerrbilder früherer Epochen, in denen der Nationalheros Luther zum Urbild alles Deutschen verklärt wurde.

Letztlich bleibt er in seinem existenziellen Ringen um Wahrheit und Freiheit ein zutiefst vom mittelalterlichen Denken und Fühlen geprägter Theologe. Ein Mensch zwischen Gott und Teufel, der seinen Wahrheitsanspruch als alternativlos ansieht und ihn mit nachgerade fundamentalistischer Rigidität gegenüber Andersdenkenden und vor allem Andersgläubigen verteidigt. Diesen Hang zur ungnädigen Verabsolutierung der eigenen Position bekamen die Juden ebenso zu spüren wie der Papst. Luthers schlimme antijudaistische Ausfälle und antipapistische Schmähungen gehören zu den dunklen Seiten des Reformators. Dennoch muss man sich klarmachen, dass man, wenn man mit den Begriffen Antisemit und Rassist operiert, Luther allein vom heutigen Standpunkt aus beurteilt. Zur historischen Wahrheit gehört aber auch, dass der „antisemitische“ Luther ein Kind seiner Zeit war. Während der fromme Graf Eberhard im Bart die Universitätsstadt Tübingen zu einem glänzenden Wissenschafts- und Bildungszentrum machte, ließ er wie selbstverständlich in seinem Land lebende Juden gefangensetzen und vertreiben - wie das auch in anderen Territorien üblich war.

Umso mehr gilt es, mit der Distanz eines halben Jahrtausends einen nüchternen Blick darauf zu werfen, was uns dieser schillernde Luther aus einer uns weitgehend fremd gewordenen Welt noch zu sagen hat. Dabei gibt es nach wie vor Überraschendes zu entdecken. So ebnete Luthers dialektisches Freiheitsverständnis auch einer neuen Verantwortungs- und Berufsethik den Weg. Evangelische Freiheit, wie er sie meinte, ist kein Freibrief im Sinne des modernen Anything goes. Sie wird sich gerade nicht in rücksichtsloser Selbstverwirklichung auf Kosten anderer entfalten. Diese Freiheit ist so etwas wie ein bedingungsloses göttliches Gnadengrundeinkommen, dank dessen es sich ein Christenmensch leisten kann, sich mit Nächstenliebe ohne Vor- oder Gegenleistung in den Dienst anderer zu stellen.

Mit dieser erweiterten, auf eine neue Solidarethik des Mitgefühls und Bezogenseins zielenden Freiheitsdimension ging eine radikale Öffnung des Heiligen in die Welt einher. Heiligkeit war nicht länger ein Privileg exklusiver Priester- und Mönchszirkel. Sie bekam von Luther ihren neuen Platz mitten im Leben, im Berufsalltag zugewiesen. Christliche Nachfolge, schrieb der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer unter Hinweis auf Martin Luther in finstersten Zeiten der Unfreiheit und Barbarei, ruft den Menschen mitten hinein in die Welt. Es geht um Welthaftigkeit eines Glaubens, der so erst seine Widerständigkeit sichtbar werden lässt: „Der Widerspruch gegen die Welt muss in der Welt ausgetragen werden“, heißt es bei Bonhoeffer. Näher kann man dem fernen, fremden Luther auch in der heillos zerstrittenen Gegenwart des 21. Jahrhunderts nicht kommen.