Anzeige
Von Angela Reinhardt
Ludwigsburg - Boris Eifman ist der Spezialist für russisches Pathos. Für sein St. Petersburger Ballett-Theater, das in den USA sehr viel mehr Hochachtung genießt als im westlichen Europa, kreiert der Choreograf unablässig Tanzdramen, deren dezente Modernität auf klassischer Schrittbasis ein wenig an John Neumeier erinnert und doch so viel exaltierter und vordergründiger ist. Zahlreiche russische Stoffe hat Eifman so zu hochdramatischen Handlungsballetten verarbeitet, zum Beispiel „Anna Karenina“, „Die Brüder Karamasow“ oder das Leben Tschaikowskys. Auf Einladung der Stuttgarter Kulturgemeinschaft gastiert seine interessante Tänzerschar nun zum wiederholten Male im Ludwigsburger Forum am Schlosspark und zeigt Eifmans neuestes Psychodrama „Die Möwe“.
Konkurrentin um Anerkennung
Auch Tschechows todtrauriges Schauspiel, das ironischerweise die Gattungsbezeichnung „Komödie“ trägt, versetzt Eifman wie so viele Vorlagen in die Welt des Balletts - die alternde Schauspielerin Arkadina wird zu einer berühmten Ballerina und die junge Nina zu ihrer unglücklichen Konkurrentin um Ruhm und Liebe, der arrivierte Schriftsteller Trigorin ist ein berühmter Choreograf und auch Arkadinas avantgardistischer Sohn Treplew sucht neue Formen im Tanz, nicht in der Literatur. Zwischen den vier Personen hat Tschechow ein subtiles Geflecht von unglücklichen Beziehungen gespannt: Nina liebt zuerst den jungen Treplew und geht dann an der Gleichgültigkeit Trigorins zu Grunde, Treplew sucht künstlerische Anerkennung durch seine Mutter, die wiederum in Nina eine Bedrohung sieht.
Zu einer Collage aus Rachmaninow, Skrjabin und wabernden Geräuscheffekten verwandelt Eifman die introvertierten Monologe des Vor-sich-hin-Leidens in stürmische, vor Leidenschaft dampfende Pas de deux zwischen Liebenden oder Konkurrenten, zwischen Mutter und Sohn, Vorbild und Bilderstürmer. Rein choreografisch lässt er dabei das Feine, Abgezirkelte des klassischen Balletts hinter sich und stürzt seine inbrünstig engagierten, durchweg großartigen Tänzer in athletische Sprünge und Würfe, in hoch aufgetürmte Hebungen oder akrobatische Bewegungsfolgen. Und immer mit der Extraprise Pathos. Zusammen mit Eifmans Sinn für starke, wenngleich klischeehafte Bilder, mit einer abstrakt-modernen Ausstattung und einer atmosphärischen Beleuchtung ergibt das eine effektvolle Show, kein Zweifel - aber in seinem ständigen emotionalen Überdruck lässt das Tanzstück kaum Raum für den kalten Lebensüberdruss, die öde Desillusion von Tschechows Figuren. So richtig problematisch wird es bei der Suche nach einer neuen Kunst, die Eifman natürlich auch in die Sprache des Balletts übersetzt. Was er unter neuem Tanz versteht, sieht entweder aus wie eine weiße Riesenamöbe, in der sich Tänzer ominös strecken und recken, oder es ist Hip-Hop à la russe, den die klassisch trainierten Herren des Eifman-Balletts rührend bemüht, aber alles andere als authentisch auf den Boden zwirbeln. Im Grunde siegt bei Eifman die arrivierte Kunst, wenn sich Choreograf Trigorin in einem interessanten Solo neue Ideen buchstäblich abringt und sie in seine „alte“, klassische Sprache integriert. Nina, die Möwe des Titels, endet als tragische Parodie eines sterbenden Schwans in einer Animierbar, der enttäuschte Liebende Treplew erschießt sich nicht wie bei Tschechow, sondern zieht sich resigniert in den symbolischen Käfig zurück, aus dem er zu Anfang ausgebrochen war.
Um die Feinheiten von Tschechows Vorlage sichtbar zu machen, braucht es keinen Mann der Effekte, sondern einen der Philosophen-Choreografen wie Maurice Béjart oder John Neumeier - der Hamburger Ballettchef hat vor fünf Jahren die „Möwe“ ebenfalls ins Ballettmilieu versetzt, seine Version gastiert Mitte Oktober im Baden-Badener Festspielhaus.
Weitere Aufführungen in Ludwigsburg bis 3. Oktober täglich 20 Uhr, morgen auch um 15 Uhr. Karten über die Kulturgemeinschaft unter Tel. 0711-22477-15, -19, -20, -21.
Anzeige