Szene aus „I puritani“ im Stuttgarter Opernhaus mit Ana Durlovski (Elvira) und Edgardo Rocha (Lord Arturo). Foto: A. T. Schaefer Quelle: Unbekannt

Von Thomas Krazeisen

Stuttgart - Sie weiß, was sie will. „Gebt mir die Hoffnung wieder oder lasst mich sterben!“. Die Tochter des Generalgouverneurs ist in ihrem Freiheitswillen so kompromisslos wie dessen puritanische Sippschaft bei der Verbannung all dessen aus dem Leben, was dieses angenehm, schön und süß macht. Leuchtende Farben sucht man hier auf der Bühne und in den Gesichtern vergeblich, das Dunkle, Gedeckte, Erdenschwere dominiert Habit und Habitus dieser genussfeindlichen Sozietät. „I puritani“ (Die Puritaner), Vincenzo Bellinis letzte Oper, feierte jetzt eine umjubelte Stuttgart-Premiere. Im Haus am Eckensee wurde das Werk offenbar noch nie aufgeführt. Eigentlich erstaunlich im Lande der Hofackers, Bengels und Hahns. Auch wenn es im schwäbischen Pietismus selbst in seinen radikaleren Spielarten weder zölibatär noch so gewalttätig zuging wie bei diesen Puritanern auf der Stuttgarter Opernbühne, prägt auch die württembergische Variante jene spezifische Kombination aus Buchstabenglauben, erfolgreicher Wirtschaftstätigkeit und einem Hang zu Weltabsage und Sektierertum.

In Jossi Wielers und Sergio Morabitos Inszenierung sieht man im ersten Bild leichenstarre Gestalten wie aus einem Peter-Bruegel-Inferno mit in die Höhe gereckten Armen und Bibeln auf dem Boden liegen. Sobald aus dem Graben das Signal zum Morgengebet ertönt, erwachen die fallsüchtigen Erscheinungen zu robotisch ekstatischem Leben und veranstalten einen bizarren Schütteltanz, der an die kultischen Eurhythmien der im 18. Jahrhundert aus England in die USA ausgewanderten Shaker erinnert.

Trostloser Sakralraum

Kein Wunder, dass das aufgeweckte Töchterlein des Burgkommandanten keinen Bock auf die ranzigen Reinigungsrituale dieses neurotischen Haufens hat. Sie zieht sich mit einem Heftchen in ihre eigene Fantasiewelt zurück und taucht in die der von den Puritanern gefangengehaltenen Königswitwe Enrichetta ein, die aus lauter Einsamkeitsweh anfängt, ihre Liebsten auf den im Raum herumliegenden Familienporträts zu liebkosen.

Wielers und Morabitos Bühnenbildnerin Anna Viebrock hat diesen fried- und freudlosen Ort ähnlich wie in der „Norma“ als neonbeleuchteten trostlosen Sakralraum mit zugemauertem Seitenportal und profanen Elementen gestaltet. Auf der linken Seite ist ein Theaterbau angedeutet, die schräg an der Wand aufsteigenden schleierartigen Stockflecken geben die Silhouette einer Landschaft mit Burg frei. Bereits die gelben Stuhlbezüge scheinen für die farbscheuen Asketen eine Spur zu freizügig zu sein, jedenfalls sind die knalligen Dekors überklebt, schließlich soll das Mobiliar vor allem funktional sein. Das Wand-Graphito „beltà e valor“ (Schönheit und Tugend), mit dem Elvira den verblendeten Spießern und Heuchlern ihre doppelte Bigotterie vor Augen hält, ist schon anderntags ein Fall für den Wasch- und Reinigungszwang des weiblichen Haubentrupps.

Überhaupt, muss man sagen, hat in dieser Fluchtburg der Lustfeindlichkeit das puritanische Bodenpersonal ganze Arbeit geleistet. Die verstümmelten Madonnen- und Herrscherskulpturen (darunter auch eine von Enrichettas enthauptetem Gemahl Charles I.?) wurden von den Bilderstürmern in den hinteren Teil der Kirche entsorgt. Ein Bilderrahmen ist leer, die heil gebliebenen Herrscherporträts sind so an die Wand gelehnt, dass sie für die Gemeindeglieder nicht einsehbar sind. Nur Sir Bruno, der Vorbeter, gönnt sich in einem unbemerkten Moment ein paar verstohlene Blicke ins verbotene van-Dyck-Kino. Ein merkwürdiger Typ. Man wird beim Anblick dieses Shaker-Daddys mit seiner blonden Mähne (Heinz Göhrig) das Gefühl nicht los, dass da ein Wiedergänger von Klaus Kinskis „Puritaner“-Liebhaber Fitzcarraldo herumgeistert.

Erst recht ein Hingucker ist Elviras Märchenprinz Arturo. Rote Pluderhose, spitzenbesetzte Stulpen, goldiger Prunkdegen: ein Ritter im Disney-Format. Bei seinem zirkusreifen Einzug wirft der schwarzgelockte Apoll seinen Federhut lasziv in die Manege und lässt die parodistischen Musketier-Muskeln spielen. Die verklemmte Frauenwelt ist diskret erregt, Zuchtmeister Bruno alarmiert.

Hochmanipulativer Strippenzieher

Eine sehr weltliche Erscheinung in seinem blauen Sakko und den Sneakers und in dieser Inszenierung obendrein die Schlüsselfigur ist Giorgio. Vaterbruder, guter Onkel, väterlicher Freund, Kumpel und wer weiß, was noch alles - man will es lieber nicht so genau wissen, wie eng die Beziehung zu seiner Nichte Elvira in frühen Tagen war, wenn man Zeuge seines ekligen Annäherungsversuches wird. Jedenfalls hat dieser undurchsichtige Manipulator, der da dem Mädchen so arglos die träumende Unschuld ihrer womöglich von ihm angetasteten Kindheit aus seinem Zauberkoffer hervorholt, hier die Fäden buchstäblich in der Hand: Der erzählte Dialog mit dem Bruder, einem einfach gestrickten Pietistenpatriarchen (Roland Bracht), bei dem die wundersame Verwandlung der Zwangs- in eine Liebesheirat ausgedealt wird, ist eine veritable Kasperltheater-Travestie.

Doch der Strippenzieher verheddert sich bei seinem hochmanipulativen Spiel, bei dem er - womöglich aus ziemlich eigennützigen Gründen - Elvira aus den Fängen der Puritanerkommune zu befreien versucht, zusehends und schrumpft von Akt zu Akt zur Karikatur seiner selbst. Im zweiten muss er, der an den Offenbach‘schen Doktor Mirakel erinnert, eine Krankenschwester-Schürze tragen, im Finale ist Giorgio, nun unauffällig im schwarzen Rock, ins rigide Glied zurückgerückt und lässt Elvira aus ihrem Traum erwachen - desillusioniert scheuert sie dem Verführer eine. Auch gegenüber ihrem Traumprinzen tritt die sich doppelt betrogen fühlende Frau wenig zimperlich auf. Arturo stolpert im dritten Akt vom Krieg gezeichnet ohne Augenlicht über den das brüchige Puritaner-Treib- und Triebhaus zusammenhaltenden Stahlträger heimwärts und erntet bei seiner Ankunft wenig Mitgefühl, dafür viel Aggressivität von der gefrusteten Angebeteten, die gefühlte 300 Jahre in ihrem Kinderzimmerschloss ausharren musste: Elvira im Puppenheim - noch so ein fantastisches Bild in Wielers und Morabitos ingeniösem Traumkaleidoskop, in dem sich Elvira durch Rückzug in frühkindliche Fantasien gegen den Wahnsinn da draußen zu schützen sucht. Ihnen entspringt auch jene kleine Elvira, die am Ende durch das Puritanerlemurenkabinett irrlichtert und wie ein Engel von der Brücke Flugblätter herabsegeln lässt, die jene kaum glaubhafte Amnestie verheißen, mit der das Libretto ziemlich abrupt ein eher zweifelhaftes Happy End sanktioniert. Nicht nur für den armen Arturo, der zwangseingemeindet wird, ist das am Ende eine mehr als fragwürdige Freiheit: Elviras Lebenstraum ist verraten, Riccardo hat das Sagen - der Wahnsinn geht jetzt erst richtig los.

Der Wahnsinn ist auch Bellinis Komposition. Am Anfang, nachdem die Hörner das Signal zur großen Treibjagd der Emotionen gegeben haben, legt Maestro Giuliano Carella dem Brio dieser herrlichen Musik kurzzeitig etwas die Zügel an, doch dann animiert er das Staatsorchester zu einem wunderbar transparenten Klang, der einen knisternden Spannungsbogen über Wielers und Morabitos brillantes Traumspiel schlägt. Die emotionalen Ausnahmezustände werden rhythmisch prägnant beglaubigt, die weit ausholenden, jenseitsseligen Melodiebögen mit delikaten Orchesterfarben ausgekostet, das grandiose Männerduett im zweiten Akt exquisit sekundiert. Der Staatsopernchor, von Johannes Knecht hervorragend disponiert, verkörpert hochpräsent das massige Titelkollektiv gefährlich verdruckster Brüder und Schwestern, jederzeit sprungbereit, um unbotmäßige Schäflein gewaltsam auf den rechten Weg zurückzubringen.

Herrliche Musik, großartige Sänger

Auch sängerisch ist diese Neuproduktion, die im Wesentlichen aus dem Ensemble heraus besetzt ist, eine Wucht. Ana Durlovski segelt mit nachtwandlerischer Koloraturensicherheit wie bereits in Bellinis „La sonnambula“ an gleicher Stätte durch Elviras (Alp-)Traumwelten. Die Rolle der Königswitwe Enrichetta ist keine allzu große, der grandiose Mezzosopran von Diana Haller macht ihren Auftritt hier zu einem Ereignis. Ihr königstreuer Befreier Lord Arturo ist auch vokal ein echter Belcanto-Kavalier mit schöner Phrasierung; mit seinem agilen Tenor erklimmt Edgardo Rocha, der einzige Sängergast des Abends, fast mühelos selbst die exponiertesten Steillagen seiner Partie. Adam Palkas Giorgio ist nicht nur schauspielerisch, sondern auch mit seinem fulminanten Bassorgan ein Zauberer vor dem Herrn. Dagegen fällt Gezim Myshketa mit seinem zwar durchschlagskräftigen, aber intonationstrüben Bariton etwas ab. Darstellerisch wiederum überzeugend fügt sich sein Riccardo als larmoyantes Weichei wie als hormongeplagter Axt-Schwinger und wiedergeborener Stürmer und Dränger mit ausrasiertem Nacken nahtlos in dieses bravouröse „Puritaner“-Gesamtbild. Man muss es einfach gesehen haben.

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit: heute, 14., 17. und 27. Juli.